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"Belarus ist ein Märchenland"

Von Gerhard Lechner

Politik
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Von Russland hängt Lukaschenkos Schicksal ab, sagt Stanislaw Schuschkewitsch.
© Andreas Urban

Weißrusslands ehemaliges Staatsoberhaupt Schuschkewitsch im Interview mit der "Wiener Zeitung".


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Wien. Er war Vorgänger von Alexander Lukaschenko an der Spitze Weißrusslands, als Physiker Autor von über 150 wissenschaftlichen Artikeln und 50 Erfindungen - und besiegelte gemeinsam mit den Präsidenten Russlands und der Ukraine, Boris Jelzin und Leonid Krawtschuk, am 8. Dezember 1991 das Ende der Sowjetunion. Die "Wiener Zeitung" hat mit Stanislaw Schuschkewitsch, der auf Einladung des Instituts für Rechtsphilosophie der Universität Wien in Wien war, gesprochen.

"Wiener Zeitung":Die Situation in Weißrussland ist keine rosige: Das Land ist vom Westen isoliert, gilt als "Europas letzte Diktatur" und hängt stark am Tropf Russlands. Präsident Lukaschenko hat ein autoritäres System aufgebaut. Warum war das gerade in Weißrussland möglich?

Stanislaw Schuschkewitsch:Lukaschenko ist ein großer Populist, versprach den Leuten das Blaue vom Himmel. Deshalb wurde er 1994 zum Präsidenten gewählt, in einer freien und fairen Wahl. Zum ersten und letzten Mal - alle späteren Wahlen ließ er fälschen. Außerdem ist es Lukaschenko gelungen, der Öffentlichkeit zu vermitteln, dass er der einzige Freund Russlands ist. Damit konnte er punkten.

Warum ist die Nähe zu Russland in Weißrussland so ein starkes Argument?

Weil die belarussische Gesellschaft die Sowjet-Propaganda verinnerlicht hat. Seit 1917 wurde uns eingetrichtert, dass das große russische Volk dem kleineren Brudervolk hilft. Das saß tief. Das ganze Geschichtsbild in Weißrussland ist noch heute auf der Sowjet-Erzählung aufgebaut. Es wird sehr viel darüber gesprochen, dass Weißrussland im Zweiten Weltkrieg von der Roten Armee befreit wurde. Was dabei oft zu kurz kommt, ist, dass jeder vierte Einwohner Weißrusslands im Krieg umgekommen ist. Wenig hört man auch davon, dass Weißrussland lange Zeit ein europäisches Land war - als Teil des Großfürstentums Litauen. Die Weißrussen haben damals "Litwiner" geheißen, also Litauer. Alle Dokumente des Großfürstentums wurden auf Altweißrussisch verfasst, über 200 Jahre lang.

Gibt es in Weißrussland heute eine Rückbesinnung auf diese Identität?

Die junge Generation in Belarus versucht das natürlich. Viele Junge sind großartig. Sie protestieren, gehen auf die Straße, versuchen, politische Bewegungen zu gründen, obwohl der Staat sie einschränkt. Die Jugend ist aber auch sehr dynamisch und pragmatisch. Für sie ist einfacher, auszuwandern, als hier zu bleiben. Insgesamt ist Weißrussland immer noch stark von der blutigen Geschichte geprägt. Nur ein Beispiel: Die USA, ein Land mit 132 Millionen Einwohnern, haben im Zweiten Weltkrieg 432.000 Menschen verloren. In Weißrussland, das 10 Millionen Einwohner hat, sind 2,5 Millionen Menschen umgekommen. Auch im Afghanistan-Krieg hat Weißrussland einen hohen Blutzoll gezahlt.

Könnte darin nicht auch ein Grund für den Erfolg Lukaschenkos liegen - dass das kriegsgeplagte weißrussische Volk "unsichere" demokratische Experimente vermeiden will und im Zweifelsfall Ruhe und Ordnung vorzieht?

Das weißrussische Volk ist tatsächlich sehr geduldig. Als es im Vorjahr geheißen hat, die Währung werde sich um das Dreifache entwerten, haben die Menschen das hingenommen. Dennoch genießt Lukaschenko bei weitem nicht so eine große Unterstützung in der Bevölkerung wie behauptet. Ihm kommt aber zugute, dass ihn Russland unterstützt. Mit den Milliarden aus Moskau kann es sich Lukaschenko leisten, die Wirtschaft nicht zu entwickeln.

In letzter Zeit hat sich die Situation freilich zugespitzt. Viele Weißrussen wandern aus, vor allem nach Russland. Lukaschenko hat im Jänner sogar mit einem Erlass zu einem Arbeitszwang versucht, die Abwanderung zu stoppen. Ist das kein Problem für ihn?

Das ist natürlich ein Riesenproblem, aber: Weißrussland ist kein normales Land. Es ist ein Märchenland. Und so lange Russland Lukaschenko nicht fallen lässt, wird sich wohl nichts ändern. Weißrussland ist für Moskau ein geopolitisch enorm wichtiger Staat, da kann man sich die paar Milliarden Dollar an Unterstützung schon leisten.

Sie selbst spielten als weißrussisches Staatsoberhaupt eine historische Rolle, als Sie 1991 mit Jelzin und Krawtschuk die UdSSR zu Grabe getragen und die GUS aus der Taufe gehoben haben. War Ihnen damals klar, was das bedeutete?

Vor dem Zerfall der atomaren Weltmacht UdSSR hatten alle Angst - auch prominente westliche Politiker wie Kissinger, Thatcher oder Bush. Jelzin, Krawtschuk und ich wollten damals in erster Linie wirtschaftliche Fragen besprechen. Kaum einer von uns traute sich offen auszusprechen, dass die UdSSR am Ende war. Aber letztlich hatten wir nur die Realitäten nachvollzogen. Alle Staaten der ehemaligen UdSSR hatten nach dem gescheiterten kommunistischen Augustputsch in Moskau Deklarationen unterzeichnet, dass sie sich als unabhängige Staaten ansehen. Wir haben dann gesagt, dass die UdSSR nicht mehr existiert.

Stanislaw Schuschkewitsch (78) war von 1991 bis 1994 als Vorsitzender des Obersten Rates das Staatsoberhaupt Weißrusslands. Zu Unrecht von seinem späteren Nachfolger Lukaschenko der Korruption bezichtigt, musste der Physiker sein Amt niederlegen. Bei den Präsidentenwahlen 1994 erreichte der heute als Politologe arbeitende Politiker dann nur zehn Prozent der Stimmen.