Weißrusslands autokratischer Präsident Lukaschenko ist derzeit in Wien zu Gast. Sein Land, das lange Zeit an der ererbten Staatswirtschaft sowjetischer Prägung festgehalten hat, führt er auf neuen Kurs: Richtung Staatskapitalismus.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es war eine illustre Runde, die sich Mitte Oktober in der Kanzlei des Rechtsanwalts Gabriel Lansky bei Sekt, Brötchen und anderen kleinen Köstlichkeiten traf: österreichische Unternehmer und deren weißrussische Partner, hohe Vertreter der Republik Belarus - die stellvertretende Wirtschaftsministerin Elena Perminowa war angereist -, Vertreter der Europäischen Entwicklungsbank EBRD und mehrerer Institute, dazu hohe Banker.
Das Thema: der "Great Stone Industrial Park", der derzeit in unmittelbarer Nähe der weißrussischen Hauptstadt Minsk errichtet wird. Direkt neben dem Flughafen Minsk an der West-Ost-Magistrale zwischen Warschau und Moskau gelegen, entsteht dort eine weißrussisch-chinesische Sonderwirtschaftszone. Es wurde dabei nicht gekleckert, sondern geklotzt: 112,5 Quadratkilometer misst der Great Stone Park. Damit ist er größer als das unmittelbare Stadtgebiet von Paris, das nur auf 105,4 Quadratkilometer kommt. Mit Steuervorteilen will das Belarus des autokratisch herrschenden Präsidenten Alexander Lukaschenko, lange als Hort reformfeindlicher Planwirtschaft geschmäht, Investoren anlocken. Und auch mit den immer noch niedrigen Löhnen bei gleichzeitig hochqualifizierten Arbeitskräften. In den meisten Bereichen bietet man, wenn auch befristet, sogar Steuern von 0 Prozent an. Das Gelände mit Ökostadt-Flair, das man - auch gegen Widerstände von Anrainern - in die grüne Landschaft gestellt hat, soll eine Art weißrussisches Silicon Valley werden.
Ziel ist, auch mithilfe westlicher Investoren innovative Exportprodukte in den Bereichen Elektronik, Telekommunikation, Chemie, Maschinenbau, Logistik oder Biomedizin hervorzubringen. Finanziert wurde der Park mit einem Kredit der chinesischen Entwicklungsbank über 1,5 Milliarden Euro. Belarus soll damit nach dem Willen von Lukaschenko ein wichtiger Knotenpunkt an Chinas neuer Seidenstraße, der "Belt-and-Road-Initiative", werden. 130.000 Menschen werden, wenn alles klappt, in der Wirtschaftsstadt mit Öko-Komfort einmal leben.
Österreich als Vorreiter
Ob das Megaprojekt tatsächlich ein Erfolg wird, ist zwar noch nicht ganz klar. Schließlich gibt es nicht nur in Belarus, sondern auch weiter westlich Sonderwirtschaftszonen, in die China investieren kann und auch investiert. Dort sind zwar die Steuern nicht derart niedrig wie in Weißrussland, dafür ist aber die Rechtssicherheit immer noch höher. Zudem sind Visegrad-Staaten wie Ungarn oder Polen Teil der EU - und Belarus ist noch nicht einmal Mitglied der Welthandelsorganisation WTO, was das Land nicht dazu prädestiniert, zu einem Tor in die EU für China zu werden. Außerdem ist nicht jedes weißrussisch-chinesische Projekt bisher erfolgreich gewesen. "Manche chinesische Investments waren sehr erfolgreich, bei anderen - wie etwa beim gemeinsamen Joint-Venture im Automobilbau, der Firma ,BelGee‘ - ist noch nicht ganz klar, wie die Geschichte ausgehen wird. Manche scheiterten aber auch aufsehenerregend", sagte der weißrussische Polit-Analyst Artjom Shraibman der "Wiener Zeitung".
Trotzdem: Auch Shraibman sieht die wirtschaftliche Öffnung, die sich im immer noch sowjetisch geprägten Weißrussland derzeit vollzieht, positiv. "Obwohl die Wirtschaft im Land immer noch ziemlich reguliert ist. Einer unserer Schriftsteller hat einmal scherzhaft gesagt, wir bauen Seoul inmitten von Pjöngjang", sagt der junge Gründer des Minsker Thinktanks "Sense Analytics" lächelnd.
Wirtschaftsfragen werden auch beim Besuch Lukaschenkos diesen Dienstag in Wien bei seinem Amtskollegen Alexander Van der Bellen eine Rolle spielen. Es ist der erste Besuch des weißrussischen Staatschefs, der von der EU lange mit einem Einreiseverbot belegt war, in einem EU-Land seit der Beendigung der Sanktionen gegen Minsk 2016.
Das ist kein Zufall: Dass sich Österreich für ein Ende der Sanktionen eingesetzt hat, dass man sich in Wien für Investitionen in Weißrussland offen zeigt, wird von Lukaschenko geschätzt. Weißrussische Medien schreiben, dass Österreich "von allen EU-Staaten am loyalsten gegenüber unserem Land" sei. In der Tat ist Österreich der zweitgrößte Investor in der Republik Belarus, ist mit Unternehmen wie A1, der Strabag oder der Raiffeisenbank im Land vertreten. In der Wirtschaftskammer wird es ein Wirtschaftsforum geben, das dazu dient, Kontakte anzubahnen und zu vertiefen.
Menschenrechte ein Thema
Offiziell widmet man sich indessen anderen Themen. Etwa dem Erhalt des Gedenkortes Maly Trostinec bei Minsk, wohin rund 10.000 österreichische Juden während des Zweiten Weltkrieges verschleppt und anschließend getötet wurden. Außerdem, heißt es seitens der Präsidentschaftskanzlei, werde es auch einen kritischen Dialog um die "problematische Frage der Menschenrechte" in dem osteuropäischen Land geben. Das ist ein Thema, das bei Weißrussland immer anklingt: Lukaschenko, der als populistischer Außenseiter 1994 die Präsidentenwahl im zweiten Wahlgang mit über 80 Prozent der Stimmen für sich entschied, wurde von westlichen Medien lange Zeit mit dem wenig schmeichelnden Titel "letzter Diktator Europas" bedacht.
Einmal an der Macht, änderte er per Referendum die Verfassung, entmachtete das Parlament und sicherte sich autokratische Vollmachten. Ende der 1990er Jahre verschwanden in Belarus sogar potenzielle Konkurrenten und Regimegegner spurlos, sie sollen mit einer sogenannten Exekutionspistole hingerichtet worden sein - jener Pistole, mit der in Weißrussland bis heute die Todesstrafe per Genickschuss vollstreckt wird.
Dennoch halten sich die Lukaschenkos Schandtaten in den letzten Jahren in Grenzen. Gewiss, die - traditionell zerstrittene - Opposition erhält in den staatlich gelenkten Medien kaum Raum. Die Parlamentswahlen am kommenden Sonntag werden wohl so ausgehen wie immer: Gegner des Präsidenten wird es auch im neuen Parlament nur wenige geben. Und sollte sich ernsthafter Widerstand gegen die Staatsführung artikulieren, würde diese, wenn nötig, wohl nicht zögern, ihn im Keim zu ersticken.
Freie Rede auf Wirtschaftsforum
Dennoch kann von einer erstickenden Atmosphäre, von chinesischen Verhältnissen, gar von Totalitarismus keine Rede sein. "Belarus ist weit weniger autoritär und restriktiv als China", sagt Shraibman, der vor kurzem auf Einladung des International Institute for Peace (IIP) in Wien einen im Internet abrufbaren Vortrag hielt.
Rumen Dobrinsky, der Belarus-Experte des Wiener Instituts für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW), geht hier noch einen Schritt weiter. Der Bulgare war kürzlich auf einem Wirtschaftsforum in Minsk. "Die dortigen Experten aus Wirtschaft, Politik und Medien konnten völlig offen sprechen, ohne jede Zensur. Sie konnten dabei auch die Regierung oder die Zentralbank kritisieren. Das war vor einigen Jahren schon so, als ich das erste Mal nach Belarus gekommen bin", sagte Dobrinsky der "Wiener Zeitung". "Das Regime ist bei weitem nicht so unterdrückend, wie es von außen oft den Anschein hat. Es gibt einen großen Grad an Offenheit."
Der hat sich in den letzten Jahren vergrößert. So gibt es seit 2016 keine politischen Gefangenen mehr - ein Erfolg des Dialogangebots der EU an die Führung in Minsk. Dabei galt die "letzte Diktatur Europas" im Westen lange Zeit als eine Art groteskes Überbleibsel aus Sowjetzeiten, als ein Land, dessen Staatschef sich allen westlichen Forderungen nach Modernisierung und Liberalisierung energisch widersetzte. Und das nicht nur gesellschafts-, sondern auch wirtschaftspolitisch: Während in Russland und der Ukraine in den 1990er Jahren die Zeit einer oft räuberischen Privatisierung und Oligarchisierung anbrach, die soziale Schockwellen auslöste, verharrte Weißrussland im althergebrachten Sowjetmodell und lebte, durch billige Gas- und Öllieferungen aus Russland aufgefangen, im Windschatten Moskaus. Lukaschenko führte sogar die - leicht veränderte - Flagge der weißrussischen Sowjetrepublik wieder als Staatsflagge ein. In der herausgeputzten Innenstadt von Minsk mit ihren Monumentalbauten aus der Stalinzeit sind die Straßennamen heute noch nach Lenin, Marx und Feliks Dzierzynski, dem Gründer der Sowjet-Geheimpolizei Tscheka, benannt. Lange Zeit galt Weißrussland als eine Art eingefrorene Restsowjetunion.
Und tatsächlich ist die Wirtschaftslage des Landes ja nicht gerade rosig zu nennen. Nachdem Russland aus nachvollziehbaren Gründen ab etwa 2007 den Gaspreis verdoppelte und einen Teil der Ölexport-Steuern einforderte, stieg die Auslandsverschuldung des Landes stark an und erreichte 2017 40,4 Prozent - 2007 lag sie noch bei 6,5 Prozent. Auch kam es in den Jahren 2009, 2011 und 2014/15 zu Währungskrisen, aufgrund der Inflation wurden beim weißrussischen Rubel ein paar Nullen gestrichen. Und auch derzeit droht Gefahr aus Moskau: Durch den Umstand, dass Russland Exportsteuern stetig reduziert und Abbausteuern erhöht, wird Belarus sein Rohöl in absehbarer Zeit zu Weltmarktpreisen kaufen müssen.
BIP in 25 Jahren vervierfacht
Trotz all dieser Probleme darf man allerdings nicht vergessen, dass es Lukaschenko gelang, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes in den letzten 25 Jahren zu vervierfachen. Damit wuchs das BIP in Belarus ähnlich stark wie das Polens oder Litauens. Und das obwohl die belarussische Wirtschaftspolitik keineswegs immer rasend erfolgreich war. So wie beim Engagement des US-Autobauers Ford in den 1990er Jahren. Dem Unternehmen wurden ebenfalls Steuervergünstigungen in Aussicht gestellt, Ford entschloss sich, 20 Millionen US-Dollar in den Bau einer Fabrik zu investieren. Doch dann tauchten immer neue Schwierigkeiten mit der sowjetisch geprägten Bürokratie auf, die Inbetriebnahme verzögerte sich, auch die Steuervergünstigungen wurden wieder infrage gestellt. Im Jahr 2000 verlegte Ford die Fabrik dann nach Russland. Mittlerweile hat Weißrussland offenbar dazugelernt. "Wir haben als Investoren in Belarus auf staatlicher Ebene sehr schnelle Entscheidungsprozesse und sehr klare, einfache Entscheidungswege vorgefunden", berichtet der Salzburger David Brenner der "Wiener Zeitung". Er ist Geschäftsführer der Firma Kronospan, die unter anderem Spanplatten und Laminatböden herstellt und in Weißrussland seit 2012 zwei große Werke errichtet hat. "Wir haben stärker investiert als ursprünglich geplant und unsere Werke sogar weiter ausgebaut", sagt Brenner. "Der Grund dafür war, dass die Zusagen, die uns gegeben wurden, immer gehalten haben. Deshalb haben wir auch mehr Jobs geschaffen als erwartet. Über 1000 Beschäftigte arbeiten mittlerweile bei uns", erzählt Brenner. Von seinem weißrussischen Personal ist er ebenfalls angetan: "Wir haben ein wirklich sehr gut ausgebildetes, mehrsprachiges Top-Management, damit haben wir überhaupt keine Probleme."
Dass die Politik der Sonderwirtschaftszonen Früchte trägt, ist nicht erst seit dem Great Stone Park zu spüren, der noch weitgehend ein Zukunftsprojekt ist. Sein Vorbild ist der Hi-Tech-Park Belarus, der 2005 ins Leben gerufen wurde. Mitte der Nullerjahre spätestens dürfte Lukaschenko klar geworden sein, dass ein gewisses Maß an Öffnung und Liberalisierung für Weißrussland überlebenswichtig ist, dass das alte Sowjetmodell speziell im neuen High-Tech-Sektor nicht mehr anwendbar ist. Der Hi-Tech-Park, der von den jungen, technokratischen Pragmatikern im Umkreis des Präsidenten aufgebaut wurde, gilt als Vorzeigemodell.
Und zwar auch deshalb, weil, wie so manche Weißrussen witzeln, der Staat im Gegensatz zu den ererbten Staatsbetrieben im IT-Sektor nicht eingreift: Die boomende Branche - in Belarus wurde etwa das Computerspiel "World of Tanks" entwickelt - ist in privaten Händen. "Das ganze Wirtschaftswachstum des Landes verdankt sich mittlerweile dem IT-Sektor", sagt Shraibman. Und Dobrinsky ergänzt: "Der Export von IT-Dienstleistungen aus Belarus entspricht mittlerweile dem, was das Land durch Lebensmittelexporte verdient. Und Lebensmittel waren immer traditionelle weißrussische Exportgüter." Schon 2017 haben die Exporte aus dem Park die Milliarden-Dollar-Grenze überschritten. Das "Wall Street Journal" sprach schon von Osteuropas Silicon Valley.
Trotz all der Jubelmeldungen bleibt Belarus wirtschaftlich ein zwiespältiges Land. "Die Wirtschaft ist in Weißrussland immer noch in vielen Bereichen reguliert", erläutert Shraibman. Der Staat habe oft ein Monopol inne. Während private Firmen für Dienstleistungen Marktpreise entrichten müssten, zahlen staatliche Firmen weniger. Auch erhielten Letztere Subventionen. Tatsächlich klangen zumindest vor einigen Jahren noch die Klagen weißrussischer Kleinunternehmer über die Bürokratie gänzlich anders als die Berichte ausländischer Investoren heute.
"Aber man darf nicht vergessen: Der Anteil des Staates an der Wirtschaft geht zurück. In den letzten sieben Jahren ist die Zahl der Menschen, die in den staatlichen Unternehmen beschäftigt sind, um 25 Prozent gefallen", sagt Shraibman. Und ergänzt: "Weißrussland ist mittlerweile in Business-Rankings unter den besten 50 Ländern."
Allianz der Reformer möglich
Dobrinsky sieht in Belarus eine "organische Transformation" von einer staatlichen Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft. "Wenn ich das Land irgendwo einordnen würde, dann unter der Rubrik Staatskapitalismus", urteilt der Experte. "Es gibt jedenfalls keine zentrale Planung mehr. Und der florierende Dienstleistungssektor ist zu 100 Prozent privat."
Dass die wirtschaftlichen Freiheiten automatisch zu politischen Freiheiten führen, glauben Dobrinsky und Shraibman nicht. "In China und Russland ist das Mehr an wirtschaftlichen Freiheiten ja auch nicht unbedingt mit politischer Öffnung einhergegangen", führt Shraibman aus. Was aber sehr wohl passiere, ist, dass Geschäftsleute - wie eben die aus der vom Staat unabhängigen IT-Branche - im bis dato oligarchenfreien Belarus zu lobbyieren begännen. "Da geht es auch um so Dinge wie Liberalisierungen im Bildungsbereich", sagt Shreibman. "Je mehr private Firmen sich etablieren, desto eher haben diese Leute auch eine politische Stimme. Und die könnte durchaus gehört werden, denn im Staatsapparat sitzen auch relativ junge Pragmatiker, die marktorientiert sind. Eine zarte Allianz zwischen den beiden Kräften formiert sich bereits." Und das, so Shraibman, könne ein erstes Vorzeichen sein dafür, wie ein pluralistischeres Belarus aussehen könnte.