Ungarns Juden geraten im Streit um die Täter-Rolle des Landes unter Druck.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Budapest. Ein Wort hat sich in Ungarn zum Stigma entwickelt: Es lautet "politisch". Dieses Adjektiv suggeriert hier eine Art Unsauberkeit oder unlautere Absichten, und es unterstellt dem damit Bezeichneten mangelnde Ernsthaftigkeit. Man kann es getrost als Schimpfwort bezeichnen. Ungarns Juden erleben es in diesen Tagen in ihrem Streit mit der Regierung um die Interpretation der ungarischen Mitverantwortung für den Holocaust. Dadurch sind sie so übervorsichtig geworden, dass sie beinahe eine deutsche Rabbiner-Delegation von den Gedenkveranstaltungen ausgeladen hätten, mit denen an den Beginn der Besatzung ihres Landes durch Nazi-Deutschland vor 70 Jahren erinnert werden soll.
Ihren Lauf hat die durchaus verworrene Geschichte bereits Ende Februar genommen. Damals erreichte ein verzweifelter Brief aus Budapest den deutschen Rabbiner Walter Homolka, Rektor des Berliner Rabbiner-Seminars "Abraham Geiger". Darin riet Alfred Yoel Schöner, Rektor des Budapester Rabbinerseminars, seinem Kollegen, nicht zur Gedenkfeier am 19. März nach Budapest zu reisen, weil dies "politisch" interpretiert würde und daher "schlimme Konsequenzen" haben könne. Hingegen seien die deutschen Kollegen nach der ungarischen Parlamentswahl vom 6. April willkommen, "in einer politisch entspannten" Atmosphäre.
"So etwas habe ich zuletzt in der DDR erlebt", staunt Homolka. Seine Budapest-Reise mit einer umfangreichen Delegation der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschlands (ARK) sagte er trotzdem nicht ab - und auf den letzten Drücker kam auch ein Treffen mit András Heisler, dem Vorsitzenden des jüdischen Verbands Mazsihisz, zustande. Schöners Rabbinerseminar untersteht Mazsihisz, der Warnbrief nach Berlin war auf Heislers Initiative verfast worden. Paradoxerweise hatte Mazsihisz zugleich Mut bewiesen, durch den Beschluss, die von der rechtsnationalen Regierung Viktor Orbans geplanten Projekte zum Gedenken an den Holocaust zu boykottieren.
Anlass für die Spannungen sind tiefe Differenzen um die Bedeutung des 19. März 1944. Damals hatte Nazi-Deutschland Ungarn besetzt, weil Hitler befürchtete, dass das seit langem verbündete Land wegen der sich immer stärker abzeichnenden Kriegsniederlage abtrünnig werden könnte.
Umstrittenes Denkmal
Angesichts des Eimarsches deutscher Truppen will Viktor Orbans Regierung heute Ungarn als unschuldiges Opfer Nazi-Deutschlands dargestellt wissen. Dies suggeriert nicht zuletzt auch ein von der Regierung geplantes Mahnmal: Es soll es einen deutschen Reichsadler darstellen, der den Erzengel Gabriel angreift, welcher Ungarn verkörpert.
Damit sind Ungarns Juden, aber auch zahlreiche namhafte Historiker nicht einverstanden. Denn es ist erwiesen, dass die nach dem deutschen Einmarsch binnen nur 56 Tagen erfolgte Deportation von 437.000 Juden in Konzentrationslager mit aktiver Unterstützung der damaligen ungarischen Behörden geschehen ist.
Der Denkmal-Plan war "der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte", sagt Heisler. Mit dem Beschluss zum Boykott habe man "zum ersten Mal seit 70 Jahren" mit einer bewusst regierungsfreundlichen Haltung gebrochen. Zugleich schwingt aber Angst vor der eigenen Courage mit. Er sei geradezu froh, "dass keine der links-liberalen Oppositionsparteien Ungarns uns öffentlich unterstützt, weil man uns sonst politische Einseitigkeit vorwerfen würde", sagt Heisler.
Dennoch wurde Heisler beschuldigt, mit dem Boykott Wahlkampf für die links-liberale Opposition zu betreiben. Der Vorwurf kam sogar von Michael Wolffsohn, dem renommierten deutsch-jüdischen Historiker, der zusammen mit der Journalistin Anne Applebaum Mitglied im internationalen Beraterkuratorium für eines der Holocaust-Gedenkjahr-Projekte Orbans ist: das sogenannte "Haus der Schicksale" im ehemaligen Josephstädter Bahnhof in Budapest. Unter der Federführung der Historikerin Maria Schmidt, einer Propagandistin der Orban-Politik, soll dort ein für Kinder gedachtes Informationszentrum über den Holocaust entstehen. Heisler sagt, er habe deutliche Signale dafür, dass Schmidt das Projekt auf die Rolle der ungarischen Judenretter konzentrieren und jene der ungarischen Nazi-Kollaborateure ausklammern wolle.
Das stark umgewertete Adjektiv "politisch" ist in Ungarns Debatten über Holocaust und Antisemitismus seit langem ein Totschlagargument. Im Herbst 2013 hatte das regierungsnahe Tom-Lantos-Institut - benannt nach einem berühmten ungarischen Holocaust-Überlebenden - in Budapest eine internationale Konferenz über Antisemitismus organisiert. Im Vorfeld wurde die Institutsleiterin Annamaria Biró gefragt, ob auf der Konferenz auch von leibhaftigen Antisemiten die Rede sein werde. "Nein", antwortete Biró damals erschrocken, "wir wollen das Thema nicht politisieren." Sobald in Ungarn Themen so konkret werden, dass sie wehtun, werden sie "politisch".