Zum Hauptinhalt springen

Belgien driftet politisch auseinander

Von WZ-Korrespondent Wolfgang Tucek

Europaarchiv

Flämischem Wahlsieger droht frankophoner Widerstand. | Staatsreform entscheidend für Koalitionsverhandlungen. | Experte: Belgien wird langfristig zerbrechen. | Brüssel. Belgien hat seine Regierung abgewählt, Flandern und Wallonien driften politisch weiter auseinander. In beiden Regionen sind die Karten neu gemischt, die guten Blätter sind aber in völlig unterschiedlichen Händen. Wie die neue Regierung aussehen könnte, bleibt daher offen. Eine große Koalition von Christdemokraten, Liberalen und Sozialisten als Übergangsregierung für eine Staatsreform oder ein Bündnis der ersten beiden politischen Familien halten Experten für möglich. Klar ist nur, dass die Regierungsbildung äußerst mühsam und langwierig wird.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 17 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

König Albert II. gibt aller Voraussicht nach dem flämischen Christdemokraten Yves Leterme den Auftrag dazu. Dessen CD&V hat mit dem separatistischen Bündnispartner NVA im größeren Landesteil Flandern einen deutlichen Wahlsieg gefeiert und ist mit 30 Sitzen auch die mit Abstand stärkste Gruppe in der 150 Sitze umfassenden Parlamentskammer. Als Partner bieten sich zunächst die Liberalen an.

Die flämische Open VLD des bisherigen belgischen Premiers Guy Verhofstadt wurde - wie die bisher ebenfalls in der Regierung sitzenden Sozialisten SP.A - von den Wählern abgestraft. Verhofstadt hat bereits seinen Rücktritt eingereicht. Die frankophone Schwesterpartei der VLD, die Mouvement Réformateur (MR) unter dem scheidenden Finanzminister Didier Reynders, konnte dagegen die seit dem Zweiten Weltkrieg bestehende Vormachtstellung der sozialistischen PS in Wallonien brechen. Die MR ist im Süden wie in der Hauptstadt Brüssel stärkste Partei, landesweit mit 23 Sitzen zweite.

Vlaams Belang isoliert

Drittstärkste Kraft ist erstmals auch auf Landesebene der rechtsgerichtete Vlaams Belang, mit dem niemand ernsthaft eine Koalition erwägt. Er hat zwar Stimmen gewonnen, aufgrund der regional getrennten Auszählung aber ein Mandat auf 17 verloren.

Gemeinsam liegen die Liberalen stimmenmäßig knapp hinter den Christdemokraten, haben aber 41 Sitze - einen mehr als die christdemokratische Familie. Erschwerend kommt hinzu, dass Leterme im frankophonen Süden nicht beliebt ist. Nach der Wahl bekräftigte er allerdings seine Pläne für eine Staatsreform: Mehr Justiz, mehr Sicherheit und mehr Rechte für die Regionen.

Hinter letzterem Punkt verbirgt sich auch die angestrebte Reduzierung der auf rund sieben Milliarden Euro pro Jahr geschätzten Transferleistungen aus dem wirtschaftlich starken Norden an den frankophonen Süden, der sich vom Niedergang von Schwerindustrie und Bergbau bisher nicht erholt hat. Der potentielle Koalitionspartner MR hält dagegen nichts von einer weiteren Aufspaltung. Und auch die Vorsitzende der wallonischen CD&V-Schwester CDH, Joëlle Milquet, ließ den Wahlsieger bereits wissen, dass sie in keine Regierung eintreten werden, die sich gegen frankophone Interessen richte. Darüber hinaus bräuchte Leterme für die zur Änderung der Verfassung nötige Zweidrittelmehrheit auch die Sozialisten an Bord. Und die mit 21 Sitzen stärkere PS unter Elio di Rupo hat bereits deutlich gemacht, dass sie nach einem Wahlkampf der verbrannten Erde mit Reynders nicht zusammenarbeiten will. Der hatte zuletzt kaum eine Gelegenheit ausgelassen um nachdrücklich auf die scheinbar strukturell bedingten Korruptionsskandale in Charleroi hinzuweisen. Der Ton war bisweilen rau.

Erstmals könnte es jetzt zu einer asymmetrischen Koalition kommen, bei der nur eine der Parteien einer politischen Familie teilnimmt, sagt der Politologe Bart Maddens zur "Wiener Zeitung". Das Konzept der politischen Familie scheine obsolet zu werden. Aufgrund der unterschiedlichen Wahlergebnisse in den beiden Landesteilen werde die Schaffung einer gemeinsamen Regierung immer schwieriger. Über eine Zeit von 20 bis 30 Jahren wittert Maddens daher die Teilung Belgiens und die Trennung Flanderns und Walloniens in separate EU-Staaten.

Wissen: Von der Wahl zur Regierungsbildung

(schmoe) Rund 7,7 Millionen Belgier waren am Sonntag wahlberechtigt. Anders als in den meisten Ländern Europas herrscht in Belgien Wahlpflicht. Alle Bürger über 18 müssen laut Gesetz einen Wahlzettel ausfüllen.

Um ins Parlament einziehen zu können muss eine Partei mindestens 5 Prozent der Stimmen erhalten. Das Parlament ist in eine Abgeordentenkammer mit 150 Sitzen und in einen Senat mit 71 Mitgliedern aufgeteilt. 40 Senatoren werden direkt gewählt. Die Abgeordnetenkammer ist die mächtigere der beiden Institutionen, sie kontrolliert die Staatsfinanzen.

Die Wahlberechtigten geben eine Stimme für die Abgeordentenkammer und die andere für den Senat ab. Was das Abgeordnetenhaus betrifft, so haben die Parteien Listen für jede einzelne der zehn Provinzen plus die Region Brüssel. Die Parlamentssitze entsprechen der Bevölkerungszahl der jeweiligen Provinz. Für den Senat gibt es nur zwei Listen - eine für den holländischsprachigen flämischen Landesteil und einen für die französischsprachige Region Wallonien.

Nach den Wahlen ernennt der König einen altgedienten Politiker seines Vertrauens, der die Möglichkeiten für Koalitionen sondiert. Dieser Schritt kann entfallen. Jedenfalls ist der Monarch berufen, den künftigen Premier mit der Bildung einer neuen Regierung zu beauftragen. Diese ist dann normalerweise vier Jahre im Amt.

Yves Leterme: Ein ruppiger Flame greift nach der Macht