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Belgien im politischen Chaos

Von WZ-Korrespondent Wolfgang Tucek

Europaarchiv

Bei Neuwahlen kaum Chancen auf Regierung im Juli. | EU-Kommission beruhigt, Van Rompuy als Joker. | Brüssel. In Belgien herrscht politisches Chaos. Bis zum Dienstagabend war noch nicht völlig klar, ob König Albert II. tatsächlich Neuwahlen ausrufen wird. Der Staat ist entlang der Sprachgrenze tief gespalten; die Spitzenpolitiker beider Landesteile waren - wie meistens - komplett unterschiedlicher Meinung über das weitere Vorgehen.


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Vor allem die Parteien aus dem flämischen Norden drängten auf einen vorgezogenen Wahlgang. Als mögliche Termine kursierten zunächst der 6. und der 13. Juni. Die Parteien der französischsprachigen Wallonie im Süden sträubten sich noch dagegen.

Gericht könnte Wahlfür ungültig erklären

Auch gab es die Befürchtung, dass Neuwahlen vom Verfassungsgericht umgehend für ungültig erklärt werden könnten. Das hatte nämlich bereits vor Jahren den einzigen gemischtsprachigen Wahlbezirk Brüssel-Halle-Vilvoorde (BHV) für illegal erklärt. Der liegt zum Teil in der Provinz Flämisch-Brabant und müsste laut dem Urteil aufgeteilt werden, bevor wieder gewählt wird.

Doch genau daran war die Regierung des vorläufig die Geschäfte weiterführenden Ministerpräsidenten Yves Leterme von den flämischen Christdemokraten CD&V gescheitert. Er bezeichnete Neuwahlen am gestrigen Dienstag als "unvermeidlich". Flanderns Liberale (Open VLD) hatten die Fünf-Parteien-Koalition wegen des ungelösten Streits um BHV in der Vorwoche platzen lassen.

Ihr junger Vorsitzender Alexander De Croo hofft offenbar auf Stimmengewinne im Juni. Die flämischen Sozialisten SP.A zeigten sich ebenfalls nicht besonders begeistert, eine Notregierung unter Leterme zu unterstützen.

Flämische Liberale als "Brandstifter"

In der Wallonie wiederum schoss sich Joelle Milquet, Parteichefin der frankophonen Christdemokraten CdH, auf De Croo ein: Es sei "völlig unverantwortlich, dass ein politischer Anfänger das Land aus wahltaktischen Gründen ins Chaos stürzt", sagte sie. Dabei berufe sich der Open VLD-Chef auf ein Problem, mit dem er sich überhaupt nicht auskenne. Die geschäftsführende Vizepremierministerin Laurette Onkelinx von den wallonischen Sozialisten redete von einer "schweren Staatskrise" und bezeichnete die flämischen Liberalen als "Brandstifter".

Trotz der unübersichtlichen Lage stärkte die Europäische Kommission dem Land den Rücken: Sie sei davon überzeugt, dass Belgien einen überzeugenden EU-Vorsitz abliefern könne - egal, ob es nun eine Regierung habe oder nicht, sagte eine Kommissionssprecherin.

Unter der Hand hieß es, dass EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy wohl als stabilisierendes Element wirken werde. Er kennt alle Beteiligten im Sitzland der EU bestens. Vor seiner Berufung an die EU-Spitze im Herbst 2009 hatte er als belgischer Premier für Ausgleich zwischen den zerstrittenen Landesteilen gesorgt.

Denn dass die Belgier bei Wahlen im Juni noch vor ihrem EU-Vorsitzauftakt am 1. Juli eine Regierung bilden können, kann sich derzeit niemand vorstellen. Nach dem letzten Urnengang im Juni 2007 hatten die Koalitionsverhandlungen rund zehn Monate gedauert.

Ein Rücktrittsangebot nach dem anderem

Der jetzt erneut gescheiterte Leterme hat seit seinem damaligen Wahlsieg bereits vier Mal bei König Albert II. um seinen Rücktritt gebeten. Nur durch Van Rompuys EU-Beförderung hat er sich im Herbst wieder an der Spitze Belgiens wiedergefunden. Erst vor zwei Tagen hat der König das Rücktrittsangebot des Ministerpräsidenten dann doch akzeptiert.