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Israels Langzeit-Regierungschef steht zum vierten Mal in zwei Jahren vor dem Scheitern einer von ihm geführten Koalition. Auch nach Neuwahlen würde es schwer werden, eine Regierung zu bilden - denn das rechte Lager ist heillos zerstritten.
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Benjamin Netanjahu ist in Israel ein politisches Urgestein. In den 1990er Jahren gewann der damals noch junge Likud-Politiker - nach einer Serie palästinensischer Attentate - die Wahlen gegen Friedensnobelpreisträger Shimon Peres und wurde für drei Jahre Premier. Später bekleidete er unter anderem das Amt des Außenministers. Seit 2009 hat der heute 71-Jährige erneut den Posten des Regierungschefs inne.
Doch was nach einer weitgehend bruchlosen politischen Karriere aussieht, ähnelt bei näherem Hinsehen eher einer Achterbahnfahrt. So wird gegen den umstrittenen Premier seit Monaten heftig protestiert, er ist in drei Fällen wegen Betrugs, Veruntreuung und Bestechlichkeit angeklagt. Und auch in seinen Regierungen gab es stets Turbulenzen. Drei Mal wurde das Parlament, die Knesset, seit April 2019 neu gewählt. Jedes Mal war das Ergebnis der Wahl derart knapp, dass keine stabile Regierung gebildet werden konnte - nicht mit, aber auch nicht ohne Netanjahu. Nach der letzten Wahl hatten sich schließlich der nationalkonservative Premier und sein Hauptkonkurrent Benny Gantz vom Mitte-rechts-Bündnis Blau-Weiß bereit erklärt, zusammenzuarbeiten, um das Patt aufzulösen. Zunächst sollte Netanjahu Premier bleiben, im Herbst 2021 sollte ihn Gantz ablösen.
Blau-Weiß zerbröselt
Doch die Hoffnung auf gleichwertige Partnerschaft währte nicht lang. Laut Medienberichten traf der Likud-Chef die wichtigsten Entscheidungen im Alleingang. Beispielsweise soll er Gantz nur ungenügend über die Abkommen Israels mit den Emiraten, Bahrain, dem Sudan und Marokko informiert haben. Der politisch unerfahrene Ex-Militärchef Gantz wirkt in der Koalition dem weit gerisseneren Netanjahu hoffnungslos unterlegen.
Für Gantz hat das Folgen: Sein Bündnis, das angetreten war, um Netanjahu abzulösen, ist inzwischen zerbröselt. Viele Wähler nehmen Gantz die Regierung mit dem Erzfeind übel. Im Falle einer Neuwahl ist nicht einmal sicher, ob Blau-Weiß die 3,25-Prozent-Hürde überspringt.
Saar tritt gegen Netanjahu an
Und diese Neuwahl könnte nun kommen: In der Nacht auf Dienstag stimmte eine Mehrheit der Knesset-Abgeordneten gegen einen Gesetzesentwurf, der die Verschiebung einer Frist für die Verabschiedung eines Budgets für das laufende Jahr um eine Woche vorsah. Damit wären, gibt es keine Einigung in letzter Minute, am Mittwoch Neuwahlen fix. Am 23. März würde neu gewählt werden. Der Konflikt ums Budget ist nur einer der vielen Streitpunkte in der Koalition.
Freilich könnte nicht nur Gantz, sondern auch Netanjahu bei Neuwahlen eine Niederlage bevorstehen. Zwar ist das rechte Lager in Umfragen stark wie nie, was Netanjahus Chancen, ein stabiles Kabinett bilden zu können, theoretisch erhöht. Es ist aber auch zersplittert wie selten zuvor. So tritt etwa mit Gideon Saar ein rechtskonservativer Likud-Mann gegen seinen ehemaligen Parteivorsitzenden an, der sich in Sachen Palästinenser kompromissloser als Netanjahu zeigt und der diesem Stimmen abjagen könnte. Der Premier ist, vorsichtig formuliert, bei vielen konkurrierenden rechten Parteichefs nicht sonderlich beliebt.
Orthodoxe ignorieren Corona
Vor allem aber hat - wie anderswo auch - die Corona-Politik der Regierung die ohnedies starke Polarisierung der Bevölkerung weiter verstärkt, auch innerhalb des zersplitterte rechten Lagers. Schon vor Corona sind etwa Versuche Netanjahus, religiös-orthodoxe und säkular-nationalistische Parteien unter der Führung seines Likud zu einer Regierung zu vereinen, oft gescheitert. Dass die Orthodoxen bis heute vom Wehrdienst befreit sind, während andere Staatsbürger drei Jahre dienen müssen, ist für viele ein Ärgernis.
Nun sorgen die Traditionalisten mit ihrem Ignorieren der strengen Corona-Bestimmungen für Probleme. Während viele säkulare Schulen seit Monaten geschlossen sind, halten die Orthodoxen die ihrigen offen. Dass an Hochzeiten nur zehn Personen teilnehmen und Begräbnisse nur im engsten Familienkreis stattfinden dürfen, wird in der Regel ebenfalls ignoriert - Hochzeiten und Begräbnisse mit hunderten Teilnehmern sind keine Seltenheit. Das Klima zwischen Säkularen und Orthodoxen ist so vergiftet, dass es schwer fällt, sich vorzustellen, wie Netanjahu nach der Wahl im März beide Lager unter seiner Führung vereinen kann.(leg)