Bernhard Fetz, Direktor des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek, erklärt den Unterschied zwischen Vor- und Nachlässen - und beschreibt die Aufgaben eines Literaturarchivs in Zeiten der Digitalisierung.
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"Wiener Zeitung": Herr Direktor Fetz, welche Funktion hat das Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek? Bernhard Fetz: Das Literaturarchiv sammelt Nachlässe, zunehmend auch Vorlässe, außerdem Sammlungen und Einzelstücke österreichischer Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts; in Einzelfällen auch von nicht österreichischen Autoren, sofern sie einen starken Bezug zu Österreich aufweisen.
Wir haben auch Gelehrten- und Philosophennachlässe, die von literarischer oder literaturkritischer Bedeutung sind. Beispielsweise den sehr schönen und bedeutenden Nachlass von Günther Anders, der in erster Linie Philosoph war, aber doch mit Fug und Recht auch als Schriftsteller zu bezeichnen ist.
Wann hat das Archiv seine Arbeit aufgenommen?
Das Literaturarchiv wurde auf Initiative von Wendelin Schmidt-Dengler gegründet, und zwar in der erklärten Absicht, ein Pendant zum Deutschen Literaturarchiv in Marbach und dem Schweizerischen Literaturarchiv in Bern zu schaffen. Seit 1996 ist das Archiv in vollem Betrieb.
Und was gab es vorher?
Bedingt durch die föderale Struktur Österreichs gibt es in vielen Bundesländern Archive, so etwa das Brenner-Archiv in Innsbruck, das über bedeutende Bestände verfügt. Aber auch die Sammlung von Handschriften und alten Drucken hier im ÖNB-Haus hat in der Vergangenheit die Funktion des Literaturarchivs übernommen. Dort liegen so wichtige Nachlässe wie jene von Robert Musil, Ingeborg Bachmann oder Heimito von Doderer. Der Sammelschwerpunkt der Handschriftensammlung lag allerdings lange auf Briefen und anderen Autographen, während ein Literaturarchiv das Interesse hat, Nachlässe in ihrer Gesamtheit zu erwerben.
Wie hat das Literaturarchiv seine Sammeltätigkeit begonnen?
An Anfang stand der Nachlass von Erich Fried, der von der Republik Österreich angekauft wurde, noch bevor es das Literaturarchiv gab. Diese Erwerbung hatte durchaus einen kulturpolitischen Hintergrund: Man wollte einen emigrierten österreichischen Autor sozusagen wieder zurückholen, ein Aspekt, der uns auch heute noch sehr wichtig ist.
Welche Autoren werden ins Literaturarchiv aufgenommen, welche nicht?
Das ist eine sehr heikle Frage. Es liegt ja auf der Hand, dass es ein Akt der Kanonisierung ist, wenn eine Institution wie die Österreichische Nationalbibliothek Materialien erwirbt. Das ist bei Nachlässen ein geringeres Problem, weil es dabei um die Sicherung von Kulturgut geht und weil wir es mit Autoren und Autorinnen zu tun haben, die in gewisser Weise schon kanonisiert sind. Schwieriger ist die Entscheidung bei sogenannten "Vorlässen". . .
. . . ein "Vorlass" wird vom Autor selbst schon zu Lebzeiten einem Archiv übergeben.
Ja - aber man muss dazu sagen, dass dieser "Vorlasshandel" ein relativ junges Phänomen ist. Vor zwanzig, dreißig Jahren wurden sehr viel weniger Vorlässe übernommen - und es wurden auch wesentlich geringere Summen dafür bezahlt als heute. In manchen Ländern, etwa in Frankreich, ist es überhaupt nicht die Regel, dass staatliche Institutionen Geld für literarische Nach- oder Vorlässe bezahlen. Nur in Österreich, der Schweiz und in Deutschland hat sich das Interesse am Vorlass so stark entwickelt. Mir scheint es aber sehr wichtig zu sein, die Kriterien für den Erwerb zu überdenken. Ein Kriterium ist sicher das Alter eines Autors: Bei vierzig- oder fünfundvierzigjährigen Autoren, die ins Archiv drängen, bin ich sehr defensiv. Ein anderes Kriterium hängt nicht unbedingt mit dem Alter zusammen: Es muss schon eine Kanonisierung gegeben sein, die nicht erst im Archiv erfolgt ist, sondern etwa durch Preise. Wenn jemand den Büchner-Preis erhalten hat, spricht einiges dafür, diesen Autor für das Archiv zu gewinnen. So haben wir etwa den Vorlass des letztjährigen Büchnerpreisträgers Walter Kappacher übernommen, wobei ein Teil der Materialien bereits vorher ans Archiv gekommen ist. Aber Preise sind nicht das einzige Kriterium, ebenso zählen die Resonanz bei der Literaturkritik, die Stellung im öffentlichen Leben, kurz, die Bewertung der literarischen Bedeutung.
Was muss ein Nachlass enthalten, damit er für einen Archivar interessant ist?
Wir unterscheiden vier Hauptkategorien: Erstens Werke , d.h. also Manuskripte, Vorstufen, Notizen usw., zweitens Korrespondenzen , also Briefe, und drittens die Lebensdokumente. Diese Kategorie ist relativ offen, da gehören Fotos und Ausweise ebenso dazu wie etwa Steuerabrechnungen. Der vierte Punkt sind die Sammlungen : Manche Leute sind zwar nicht als Autoren bedeutend, wohl aber als Herausgeber und Vermittler. Und in ihren Sammlungen finden sich oft interessante Werke anderer. Wenn ein Zeitschriftenherausgeber Texte vieler Autoren gesammelt hat, ist das für uns von Inter-esse, wir übernehmen auch Redaktions- und Verlagsarchive.
Fallen damit alle Rechte dieser Autoren automatisch dem Archiv zu?
Die Urheberrechte bleiben vom Erwerb unberührt. Aber wenn eine Sammlung ans Archiv geht, dann gehört alles, was sich in dieser Sammlung befindet, dem Archiv. Es gibt aber auch den Fall einer langjährigen Leihgabe durch Hans Widrich in Salzburg, in der sich unter anderem die Wanderschuhe, die E-Gitarre und zahlreiche Bilder aus der Sammlung Peter Handkes befinden.
Wer entscheidet, ob ein Vor- oder Nachlass übernommen wird: Gibt es dafür eine Kommission?
Schlussendlich habe ich als Direktor es zu verantworten, weil ich auch das Budget verantworte. Aber selbstverständlich wird intern diskutiert. Bei großen Ankäufen wird das natürlich auch auf der Ebene der Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek und deren Kuratorium mitentschieden.
Früher waren die großen Handschrift-Konvolute die Glanzstücke eines jeden Archivs. Wie aber sieht das Archiv des digitalen Zeitalters aus, wenn ein Nachlass zum Beispiel nur aus einem USB-Stick besteht?
Es ist noch überraschend viel Papier vorhanden! Die meisten Autoren drucken ihre Arbeiten aus, korrigieren sie und drucken sie dann wieder aus. Das Papier ist für uns nach wie vor die sicherste Art der Archivierung. Bei sehr umfangreichen Beständen bedeutet das natürlich, dass sich das Papierarchiv unglaublich erweitert. Es kommen aber doch immer öfter auch Festplatten, Disketten oder USB-Sticks ins Archiv.
Werden diese als Materialien gespeichert, oder wird ihr Inhalt ausgedruckt und auf Papier aufbewahrt?
Sowohl als auch. Auf den Festplatten sind allerdings oft auch Dinge, die als Datei nicht ersichtlich sind. Ein Löschbefehl bedeutet ja noch nicht, dass die Daten vollkommen verschwunden sind. Das heißt, dass wir unter Umständen auch Dinge bekommen, von denen die Besitzer nicht einmal wissen, dass sie noch vorhanden sind. Da stellt sich also eine Reihe von Problemen. Das schwierigste ist die Datensicherung. Alle zehn Jahre etwa müssen die Bestände migriert werden - Datenmigration bedeutet aber Verlust von Steuerungszeichen, von Umlauten, Absätzen und so weiter. Es ist eine große Herausforderung, Daten in international anerkannten Formaten zu speichern, bzw. Daten von ganz unterschiedlichen Datenträgern in ein einheitliches Speicherformat zu bringen. Das betrifft natürlich auch den Email-Verkehr, und darüber hinaus sind wir mitten in der Diskussion darüber, ob man nicht in ausgewählten Fällen auch Websites oder Blogs archivieren sollte. Ich erwähne nur Elfriede Jelinek, die ja im Netz publiziert, aber auch sonst gibt es immer mehr Literatur-Blogs.
Aber wie können Websites oder Blogs im Archiv gespeichert werden?
Das ist einerseits ein technisches Problem, aber es stellt sich ebenso die Frage nach der Auswahl. Für ein Literaturarchiv muss der Inhalt entscheidend sein. Für uns wird in Zukunft wichtig sein, ob ein Blog etwa tatsächlich das digitale Tagebuch eines bedeutenden Autors ist. Ist das der Fall, dann sollten wir uns Gedanken darüber machen, wie man dieses Dokument speichern kann.
Was geschieht, wenn etwa der Enkel eines Autors bemerkt, dass in den Archivalien Dinge verborgen sind, die dem Ansehen der Familie schaden? Kann er diese Materialien dann zurückverlangen?
Zurückverlangen kann man nichts. Was im Literaturarchiv liegt, ist Eigentum der Nationalbibliothek und damit kulturelles Erbe, das durch eine Bundeshaftung gesichert ist. Es gibt aber die Möglichkeit, Persönlichkeitsrechte vertraglich schützen zu lassen. Im Übrigen gelten unabhängig von unseren Verträgen allgemeine Persönlichkeitsrechte, die gewahrt werden müssen. Die Publikation von Korrespondenzen etwa - vor allem, wenn die Briefpartner noch leben - unterliegt immer der Zustimmungspflicht, und es ist durchaus möglich, Konvolute bis zu einem bestimmten Zeitpunkt sperren zu lassen.
Angenommen, ein Autor stirbt - wartet das Archiv dann auf ein Angebot der Nachlassverwalter oder wird es selbst aktiv?
Natürlich gibt es eine Pietätspflicht. Aber wenn ein Autor von Rang stirbt, und ein öffentliches Interesse an seinem Nachlass besteht, dann werden wir schon von uns aus aktiv. Es kommt aber mindestens genauso oft vor, dass wir angesprochen werden.
Wie bestimmt sich der Preis für einen Nach- oder Vorlass? Regelt das der Markt oder gibt es feste Grundpreise?
Es gibt seriöse Begutachtungsverfahren. Bei allen Ankäufen, die eine gewisse Größenordnung überschreiten, lassen wir ein externes Gutachten erstellen. Außerdem gibt es Vergleichspreise, obwohl das bei Nachlässen oft schwierig ist, weil es nicht für alles einen Marktpreis gibt. Finden sich in einem Nachlass zehn Canetti-Briefe, dann haben die einen Marktpreis, der etwa auf internationalen Auktionen ermittelt wird.
Aber viele andere Materialien haben eben keinen solchen Marktpreis. Da muss dann der wissenschaftliche oder kulturhistorische Wert festgestellt werden, den die Verkäufer in der Regel sehr viel höher veranschlagen als wir. Tendenziell sind die Preise zu schnell gestiegen. Das liegt unter anderem auch daran, dass in Österreich einzelne Bundesländer aus Prestigegründen Vorlässe von Autoren angekauft haben, was die Preise in die Höhe getrieben hat.
Wie finanziert sich das Literaturarchiv?
Das Budget der Nationalbibliothek setzt sich aus einer Basisabgeltung und ihren Einnahmen zusammen, und aus diesem Budget werden die verschiedenen Sammlungen finanziert, die dann eine gewisse Budgethoheit haben. In besonderen Fällen, wie etwa beim Ankauf des Vorlasses von Peter Handke, kann es eine Extra-Dotierung durch das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur geben. Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass es auch Schenkungen gibt. Wir haben zum Beispiel den Briefwechsel zwischen dem Verleger Reinhard Piper und Alfred Kubin. Der ist großartig, vor allem auch, weil Kubin seine Briefe mit schönen Vignetten versehen hat. Ein Teil davon wurde von uns erworben, aber der größere Teil war eine Leihgabe der Sammlung Essl. Diesen Teil hat Frau Professor Agnes Essl uns geschenkt.
Sie sind der Nachfolger des früh verstorbenen Gründungsdirektors Wendelin Schmidt-Dengler. Welches Verhältnis haben Sie zu Ihrem renommierten Vorgänger?
Schmidt-Denglers große Leistung, was das Archiv angeht, besteht darin, dass er der Motor und Promotor eines nationalen Literaturarchivs von internationaler Bedeutung gewesen ist. Ohne seine Initiative gäbe es das Archiv nicht. Es ist ihm auch gelungen, die Archivarbeit an die Universität anzubinden, und das werde ich beibehalten. Natürlich ist es eine Ehre, aber auch eine Belastung, in diese Fußstapfen zu treten. Ich bin ein Schüler Schmidt-Denglers, aber jeder Schüler emanzipiert sich - hoffentlich - irgendwann von seinem Lehrer, und deshalb möchte ich versuchen, eigene Akzente zu setzen.
Welche?
Jetzt ist eine gewisse Konsolidierungsphase eingetreten, was nach fast 14 Jahren Arbeit ganz natürlich ist. Und es stellen sich einige theoretische Fragen: Wo sind die Grenzen der Archivierung erreicht, und was lässt sich zum Beispiel gegen die Arbeit eines Archivs einwenden? Es lässt sich etwa beobachten, dass manche Dinge schon im Hinblick auf ihre Archivierbarkeit produziert werden. Die Zeitspanne zwischen Produktion und Archivierung wird immer kürzer. Ich glaube aber, jedes Archiv, jedes Museum, jede Sammlung sollte über die Verantwortung, die mit dieser Arbeit verbunden ist, sehr genau nachdenken, und der Tendenz zur Archivierung manchmal auch entgegenwirken.
Das heißt, Sie wollen beim Ankauf von Archivalien strengere Kriterien anlegen?
Es gibt immer wieder Angebote, die zwar insofern eine Bedeutung haben, als sie das kulturelle oder wissenschaftliche Leben einer bestimmten Zeit abbilden. Wenn sie aber keinen hohen literarischen oder philosophisch-erkenntniskritischen Wert haben, dann ist für mich eine Grenze erreicht. Wir müssen auf Qualität achten, nicht auf Quantität.
Welche Lücken würden Sie gerne noch füllen?
Es gibt noch einige bedeutende Nachlässe im Privatbesitz. Zum Beispiel bemühen wir uns schon lange um den Nachlass von Felix Salten. Ich meine, der Autor von "Bambi" und mutmaßlich auch der "Mutzenbacher" , der außerdem ein wichtiger Feuilletonist war und als exilierter Autor in Zürich gestorben ist, sollte von nationalem Interesse sein. Ein zweiter großer Nachlass in Privatbesitz ist derjenige Rilkes, der durchaus in Österreich seinen Platz haben könnte. Aber das sind sehr große Projekte, die unsere finanziellen Möglichkeiten derzeit überschreiten.
Im Übrigen muss man sich darüber klar sein, dass ein Archiv immer nur Ausschnitte dokumentiert. Ein Archiv kann nie die Gesamtheit eines Werkes oder einer Lebenswirklichkeit repräsentieren. Viele Materialien sind verloren gegangen, manches wurde auch absichtlich zerstört.
Sie arbeiten an einer Ernst Jandl-Biographie. Wann ist mit einem Abschluss zu rechnen?
Es ist sehr indiskret, einen Biographen zu fragen, wann er mit seiner Arbeit fertig wird. Mein neuer Job hat die Arbeit an der Biographie unterbrochen, aber ich hoffe, in zwei bis drei Jahren doch fertig zu sein. Im Herbst 2010 wird allerdings schon ein Teil des Projekts realisiert, weil heuer Ernst Jandls 10. Todestag und sein 85. Geburtstag ist. Zusammen mit Hannes Schweiger mache ich deshalb eine Jandl-Ausstellung im Wien Museum.
Zur PersonBernhard Fetz, geboren 1963 in Höchst (Vorarlberg), ist Direktor des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) und Privatdozent am Institut für Germanistik der Universität Wien. Er war als Leitender Mitarbeiter an größeren wissenschaftlichen Projekten (u.a. Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie) beteiligt und ist als Literaturkritiker und Ausstellungsgestalter tätig. Er ist Mitherausgeber der auf zehn Bände angelegten Ausgabe der Werke Albert Drachs. Publikationen (Auswahl): Ernst Jandl. Musik Rhythmus Radikale Dichtung (Hg., Wien 2005); Das unmögliche Ganze. Zur literarischen Kritik der Kultur (München 2009); Die Biographie - Zur Grundlegung ihrer Theorie (Hg., Berlin 2009).
Das Literaturarchiv der ÖNB entwickelte sich seit seiner Einrichtung im Jahre 1996 zu einem wichtigen Ort zwischen Wissenschaft und literarischem Leben. Die materielle Sicherung und Bewahrung der Dokumente steht in enger Verbindung mit der kontinuierlichen Forschungs- und Publikationstätigkeit am Archiv. Sie wird ergänzt durch Ausstellungen, Lesungen, wissenschaftliche Tagungen und zweimal jährlich stattfindende "Archivgespräche". Zur Zeit bewahrt das Archiv rund 380 Bestände, davon ca. 160 Vor- und Nachlässe. Doch werden auch adiovisuelle Medien gesammelt: Derzeit befinden sich rund 1250 Tonbandkassetten, 260 Tonbänder, 1200 Schallplatten, 740 Compact Discs sowie 500 Videokassetten und Super-8-Filme im Archiv. Zu dessen Bestand gehören außerdem größere und kleinere Nachlassbibliotheken, die geschlossen aufgestellt werden.