Theoretische und praktische Möglichkeiten, mit dem Vergehen der Zeit umzugehen.
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Das zentrale Phänomen, das mit dem Leben zusammenhängt, ist die Zeit: die Veränderung in bestimmten voraussehbaren Zyklen, das Maß dieser Veränderung, der Übergang von einem Zustand in einen anderen, vom Leben in den Tod, das Altern, das Vergehen, der müßige Widerstand dagegen.
In der Zeit entsteht neues Leben. Leben ist zuerst ein fruchtbarer Brei, eine lebens- und fortpflanzungsfähige Masse, ein "brodelnder Topf", in dem in Prozessen der Konkurrenz und des Zufalls (Evolution) ständig neue Klassen, Familien, Gattungen entstehen. Getragen bzw. ausgeführt wird diese Entwicklung durch Individuen, durch einzelne Wesen, die grosso modo den Gesetzen des großen Stroms gehorchen, die aus der Masse kristallisieren und bald wieder ihre Konturen verlieren.
Unsere Beschreibung dessen, was geschieht, bezieht sich auf Strukturen (zwischen Mikroorganismen und Gesellschaft) und auf individuelle Situationen und Geschichten - methodisch deduktiv und induktiv gewonnen. Die Strukturen und deren Formationen sind meistens unscharf, die Individuen und deren Geschichten sind trotz aller Ähnlichkeiten so eigenständig, dass man die Historiker verstehen kann, die auf der "idiographischen Methode" beharren, und nur Einzelfälle beschreiben.
Stetige Veränderung
Leben ist Veränderung in der Zeit; auch unbelebte Materie verändert sich, nur geschieht dort die Veränderung langsamer.
Alles uns Bekannte verändert sich, wird verändert, bewegt sich, wird bewegt, schleift sich ab, wird angelagert, verliert seine Farbe, bekommt eine neue, verbraucht Energie, gewinnt Energie, kommt vielleicht einmal in einen definitiven Zustand der Ruhe, des Stillstands, der uns nicht bekannt ist.
Die Vorgänge im Zusammenhang der beschriebenen Veränderungen sind Ausdruck des zeitlichen Ablaufs. Zeit ist ein Begriff, der im Hinblick auf die existentielle Dimension seines Inhalts in allen Sprachen vorhanden ist. Da wir Menschen Wesen der Zeit sind und in "Zeiträumen" leben und denken, können wir über Zeitlosigkeit nichts wissen, nur spekulieren.
Zeit ist jedenfalls das zentrale Medium der Menschen. Wir entstehen, werden geboren, entwickeln uns und sterben. Wir denken und werden gedacht. Wir vergessen und werden vergessen. Trotz aller Lexika der Welt ist die reale, aber auch die kollektiv reflektierte menschliche Existenz auf überschaubare Zeiträume, "auf Augenblicke" beschränkt. Aber immerhin: die Worte "Faust", "blaue Periode", "Don Giovanni" waren und sind in vielen Millionen Köpfen und erzeug(t)en unendlich viele unterschiedliche Assoziationen: eindrucksvolle Imperien und Panoramen des Denkens, der Bilder und der Töne.
In der sozialen Welt des Miteinander (in der Gesellschaftsgeschichte) hat Zeit ihre Geschichte und ihre Narration, die gegenwärtig, also Mitte der 10er Jahre des 21. Jahrhunderts, durch Beschleunigung, Stress, Gehetztheit, "Mangel an Zeit" und "Burn-out" (das Feuer ist erloschen) gekennzeichnet ist. Ab einem bestimmten Grad der Beschleunigung entsteht der Eindruck von Zerstörung jenes Phänomens, das bis zum Beginn der Neuzeit durch "lange Weile" - heute durch Gehetztheit - gekennzeichnet ist.
Es ist verständlich, dass die Menschen der Zeit, die eine vage Annahme ist, die Schuld für das anstößige und inkriminierte Vergehen geben. Arkadien, das waren Natur, Schönheit, Lust und Liebe. Naturschönheit wird gegenwärtig durch Naturkonserven (Reservate, Museen, Erlebnisparks, etc.) ersetzt. Lust dauert für die Profis zwei bis drei Stunden. Liebe wird weiterhin als unvergänglich imaginiert und dauert manchmal - trotz langer Lebensdauer immer seltener - bis zur Eisernen Hochzeit (65 Jahre). Auf dem Jupiter wären das etwa 6 Jahre; auf dem Pluto - gleich, ob er ein Mond oder ein Planet ist - ein paar Monate.
Die Menschen standen bis weit in die Neuzeit in einem direkten Verhältnis zur Natur, die ihnen noch ungezähmt, wild, ohne Empathie gegenübertrat. Die Natur fordert sofort, gewährt kein Moratorium. Sie setzt Tatsachen, mit denen man sich ohne Verzug auseinandersetzen muss. Das Lapidare der Anforderungen bewirkte, dass in den historischen Zeiten - mit Ausnahme der Eliten - wenig miteinander gesprochen wurde. Das gesprochene Wort war wie das Verhalten ritualisiert. Die Weisheit der Welt war in Sprichworte gegossen. Die Welt wurde standardisiert und geschlossen und nicht gestaltbar und offen wahrgenommen.
Das zentrale dramaturgische Gestaltungsmotiv und Interpretationsschema der Kulturwissenschaften ist die Chronologie. Aus dem genauen zeitlichen Ablauf erklärt sich die Handlung. Bringt man die gesprochenen Sätze und Worte aus der zeitlichen Ordnung der Aufeinanderfolge, geht der Sinn verloren - das Gesagte wird surreal.
Gleichzeitigkeit
In der Welt gibt es - wenn es eine Zeit gibt - die Gleichzeitigkeit. Zu einem Zeitpunkt, der von der elektronischen Weltuhr angegeben wird, geschehen Milliarden Geschichten. Zwei Milliarden Menschen schlafen zu jedem Zeitpunkt. Pro Minute sterben 150 bis 200 Menschen; etwas mehr werden geboren. Von den etwa 250 Milliarden geschlechtlichen Vereinigungen jährlich finden ca. 50.000 pro Minute statt. Dabei werden ca. sieben Kubikmeter Sperma ejakuliert.
Jedes der genannten Ereignisse ist in den Erinnerungen der Agierenden und in jenen von anderen eine Zeitlang festgehalten und aufbewahrt; einiges davon auch in den Archiven und kollektiven Gedächtnissen. Da die Geschehnisse, mit denen die Menschen interagieren, an ganz unterschiedlichen Orten unter ganz unterschiedlichen Bedingungen stattfinden, gibt es das Wort von der "Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen". Unklar ist - und darauf wollte ich hinweisen - die Tatsache, ob es die mathematische "Gleichzeitigkeit" außerhalb der subjektiven Wahrnehmung der handelnden Menschen gibt. Gleichzeitigkeit kann sich in der gemeinsamen Anwesenheit bei einem Ereignis, in Empathie, Gleichklang und Harmonie, in einem die Menschen bewegenden Ereignis oder einer Ereignisfolge, einer politischen Situation, etc. manifestieren. Gleichzeitigkeit ist aber - so meine Denkhypothese - keine naturwissenschaftliche, sondern eine subjektive, eine menschliche Größe.
In wachsendem Maße nehmen die Möglichkeiten zu, Gleichzeitigkeit mit anderen Menschen überall auf der Welt mit Hilfe der Medien Telefon, E-Mail, Skype, SMS, Social Media zu erreichen. Aber die Möglichkeit emphatischer Gleichzeitigkeit ist in den Social Media radikal reduziert. Die Kontakte beschränken sich auf wenig reflektierte "Likes" und die Sendung von Emoticons, die Gefühle in sehr reduzierter Form wiedergeben.
Am gesellschaftlich Wirksamsten in den Lebenswelten der Gleichzeitigkeit sind gegenwärtig Finanztransaktionen im sogenannten Hochfrequenzhandel von Finanzprodukten, der in immer kürzeren Zeiträumen immer höhere Gewinne abwirft.
Gleichzeitigkeit ist eine Möglichkeit der gezielten Herstellung von Kontakten ohne Ansehung geografischer Differenzen. Die Herstellung von Gleichzeitigkeit entspricht der Sehnsucht, die grundsätzliche Einsamkeit der menschlichen Existenz zu überwinden. Diese definitive Aufhebung der Einsamkeit ist - wie alle empirischen Beispiele zeigen - weder am selben Ort noch im virtuellen Raum herstellbar; sie bleibt Fiktion.
Verzögerung, Zertrümmerung der Zeit, "Slow Food", etc. waren und sind Versuche, der Inkompatibilität der menschlichen Werte von Liebe, Schönheit und Menschlichkeit mit "Ewigkeit" zu begegnen. Alle menschlichen Erfahrungen haben jedoch ausnahmslos Beginn, Ablauf und Ende; und auch die Vorstellungen von Unendlichkeit und Zeitlosigkeit ändern sich wie alles andere ununterbrochen.
Das Vergehen
"Ihr glaubt, die Zeit vergeht! Thoren! . . . Die Zeit steht! Ihr vergeht! Hier arbeitet die Natur an der Verwandlung des Menschen", ließ Joseph Gottfried Pargfrieder auf seine Grabplatte schreiben. Das Vergehen ist ein messbares Faktum der organischen Chemie. Es kümmert sich nicht um menschliche Eigenschaften, die Geschichte beeinflussen, um Solidarität oder Egomanie der Individuen, um deren Faulheit oder Tätigkeit. Menschliche Individuen könn(t)en experimentell ihre Initiative, ihr Handeln, ihr Eingreifen minimieren, wie weiland der träge Oblomow, den der russische Autor Iwan Alexandrowitsch Gontscharow erfunden hat; oder sie könnten es maximieren - so viele Aktionen, die Reaktionen bewirken, wie nur möglich setzen. Aber dieser Versuchsanordnung mangelt die Einsicht in die Komplexität des menschlichen Handelns.
Wie könnte man die Zeit zerstören? Sich auf der Toilette einsperren und alle Karl May-Bände lesen und deren Schreibweise gendern? Kommt da bald der Zeitpunkt, an dem man lieber tot wäre?
Manchmal gibt es Augenblicke, zu denen man sagen möchte: "verweile doch". Wir wollen glücklich sein und haben ein Gespür dafür, was und wie das sein könnte. Es scheint ja bisweilen den Gleichklang, die Harmonie in der Tat zu geben; alles steht still; "es feiern das Brautfest Menschen und Götter, es feiern die Sterblichen all, und ausgeglichen ist", so Hölderlin, "eine Weile das Schicksal". Aber Trug und Chimäre, die Fata Morgana, sind wichtige Bestandteile der Wahrnehmung, und so kann es sein, dass die Aufforderung an den Augenblick, zu verweilen, bloß die Resignation des Suchenden ist, dass es nichts Besonderes zu finden gibt.
Hubert Christian Ehalt, geb. 1949, lehrt als Professor an der Universität Wien und an der Universität für angewandte Kunst in Wien.