Seltene Erkrankungen werden aufgrund der modernen Genetik immer schneller erkannt und behandelt.
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Wien. Sie tragen fast unaussprechliche Namen, wie etwa Osteogenesis imperfecta, Epidermolysis bullosa oder Amyotrophe Lateralsklerose. Dahinter stecken die Glasknochenkrankheit, die Schmetterlingskrankheit und ALS - eine durch ihren wohl berühmtesten Patienten, den britischen Physiker Stephen Hawking, bekannt gewordene unheilbare und fortschreitende Erkrankung des motorischen Nervensystems. Sie alle eint die Bezeichnung "seltene Erkrankungen". Durch die Anstrengungen von Forschern auf der ganzen Welt ist es mittlerweile gelungen, dass seltene Erkrankungen heutzutage nicht nur viel schneller und früher entdeckt, sondern auch schneller und personalisierter therapiert werden können.
"Von der Entdeckung eines Gendefekts als Ursache einer seltenen Erkrankung über die Erforschung von dessen Mechanismus bis hin zur personalisierten Therapie dauert es im günstigsten Fall nur noch wenige Monate, wenn wir auf vorhandene Medikamente zugreifen können", betont Kaan Boztug, Leiter des Wiener Zentrums für die interdisziplinäre Erforschung und Behandlung von seltenen und nicht diagnostizierten Erkrankungen CeRUD (Vienna Center for Rare and Undiagnosed Diseases).
400.000 Österreicher
Doch wann ist eine Krankheit überhaupt als selten zu bezeichnen? Dann, wenn diese nicht mehr als einen von 2000 Menschen betrifft. Es gibt allerdings so viele verschiedene Varianten, dass in Österreich immerhin mehr als 400.000 Patienten davon betroffen sind. Weltweit leiden ganze fünf bis acht Prozent der Menschen an einer seltenen Erkrankung. Dabei handelt es sich auch häufig um lebensbedrohliche oder chronisch einschränkende Leiden, die einer speziellen Behandlung bedürfen. Allem voran steht die Diagnose, die sich bei seltenen Erkrankungen viel schwieriger gestaltet als bei herkömmlicheren, weiter verbreiteten Krankheitsformen. "Zu ungefähr 80 Prozent sind diese Erkrankungen genetisch bedingt", erklärt Boztug im Gespräch mit der "Wiener Zeitung": "Häufig ist nur ein einziger Gendefekt der Auslöser". Während jedoch früher die Suche nach Defekten in der DNA vergleichbar war mit der Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen, erlauben modernste Sequenziermethoden - wie die Technologie des Next-Generation-Sequencing - eine Aufschlüsselung des Erbguts innerhalb von wenigen Tagen, erklärt der Forscher.
"Das geht mittlerweile rascher, da diese modernen Methoden viel schneller geworden sind. Voraussetzung ist aber immer noch, dass der Forscher die Ursächlichkeit der gefundenen genetischen Veränderung für die Erkrankung findet - und zeigt, wie der genetische Defekt zu der jeweiligen Erkrankung führt."
Eine wesentliche Erleichterung verschaffen den Wissenschaftern heutzutage auch der weltweite Datenaustausch und die Bioinformatik. Daten von Patienten können so kategorisiert werden, dass sie im wissenschaftlichen Rahmen sprachunabhängig und anonymisiert austauschbar sind. Damit wird es auch möglich, irgendwo anders auf der Welt - ob in Japan, China oder Australien - Patienten mit einem ähnlichen Phänotyp zu finden. Die Forscher können ihr Wissen zusammenzutragen, um den Betroffenen möglicherweise rascher helfen zu können.
Die Forschung auf diesem Gebiet ist kostenintensiv. Lange Zeit seien die seltenen Erkrankungen von der Pharmaindustrie zudem "eher stiefmütterlich" behandelt worden. Hier habe jedoch eine Trendumkehr stattgefunden, denn immer häufiger kommt es zu Situationen, in denen Medikamente erfolgreich eingesetzt werden können, die sich bereits bei der Therapie von ganz anderen Krankheiten bewährt haben. Dieser Off-Label-Use - also außerhalb der Zulassung - findet auch immer häufiger etwa bei Krebsbehandlungen statt.
Intensive Forschung in Wien
Boztug schildert überdies die Entwicklung der öffentlichen Aufmerksamkeit für seltene Erkrankungen und sieht darin ein Paradebeispiel dafür, dass Gesellschaft und Patienten in der Lage sind, das Gesundheitssystem selbst mitzuformen. Vor allem seien hier die Patientenorganisationen zu einem Taktgeber geworden und hätten eine effiziente Betreuung der Betroffenen richtiggehend von der Politik eingefordert.
Österreich ist übrigens weltweit ein Hotspot für die Erforschung von seltenen und nicht diagnostizierten Erkrankungen. Im Jahr 2014 war in Kooperation der Unikliniken für Dermatologie sowie Kinder- und Jugendheilkunde der Meduni Wien und dem Cemm Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften das CeRUD ins Leben gerufen worden, dessen Leiter Kaan Boztug ist. In der Zwischenzeit hat der Forscher mit einem Team von Kollegen auch den Zuschlag für die Gründung eines dezidierten Forschungsinstituts für seltene und undiagnostizierte Erkrankungen von der Ludwig Boltzmann-Gesellschaft erhalten. Ab heuer soll damit in Wien die Forschung noch intensiver vorangetrieben werden.
Die neuesten Erkenntnisse auf diesem Gebiet werden heute, Freitag, und Samstag im Rahmen des ersten CeRUD-Symposiums in Wien diskutiert. Weltweit führende Köpfe werden als Vortragende erwartet.