In Großbritannien herrscht der kollektive Wahn- und Starrsinn. Einen Weg zurück scheint es nicht zu geben. Ein Essay.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
London. Anfang 2019 als Mensch mit eingebauter Außenperspektive in Großbritannien zu leben, das ist, als wäre man gefangen im Kopf eines dementen Psychopaten. Die Interviews mit den Männern und Frauen auf der Straße, die im Fernsehen laufen, nehmen täglich neue Dimensionen des kollektiven Wahn- und Starrsinns an. Aus "Sie brauchen uns mehr als wir sie", "Ziehen wir’s einfach durch" und "Sagt uns nicht, wir wüssten nicht, wofür wir gestimmt haben" sind mittlerweile Beschwörungen des Geists des Blitzkriegs geworden. "Wir haben den Krieg gewonnen, also kommen wir da auch noch durch", sagen Männer in Pubs, die den Krieg nur von Wiederholungen von "Dambusters" her kennen.
"Es wird den Leuten nicht schaden, wenn sie einmal eine Zeit lang ohne Essen auskommen", meint ein Baby Boomer. Ein anderer erklärt erst seine nicht schwankende Loyalität zum Brexit und meint dann: "Wenn ich jung wäre, würde ich nicht in diesem Land bleiben, das den Bach runtergeht. Ich würde ins Ausland abhauen." Er ist sich offenbar nicht bewusst, dass das selbst von gemäßigten Zentristen mantrisch als Willen des britischen Volkes beschworene Ende der Bewegungsfreiheit der jüngeren Generation genau jene Feuerleiter unter den Beinen wegtritt. Und der Interviewer macht ihn auch nicht darauf aufmerksam.
Uneinsichtige Ex-Kolonien
"Die politische und die Medienklasse Großbritanniens leben seit dreißig Jahren in Angst vor der Hälfte der Bevölkerung", erklärt John Harris, der für den "Guardian" den Video-Blog "Anywhere But Westminster" betreibt und bei seinen Straßenumfragen in Brexit-wählenden Winkeln Britanniens seltenen Mut zum Widerspruch zeigt, "Das, was als die Stimme der Working Class wahrgenommen wird, darf nicht in Frage gestellt werden. Ich halte das für sehr gefährlich, denn es bedeutet, dass Menschen wie Nigel Farage, die gar nicht aus der Working Class kommen, sondern so tun, als würden sie für sie sprechen, mit allem ungestraft davonkommen. Und das ist sehr gefährlich."
Nicht minder heikel sei das weitverbreitete Klischee, dass die britische Working Class "nicht über die Zukunft nachdenkt und eine Schwäche für sinnlose Gesten hat". Daraus folge nämlich der Trugschluss, dass selbiges auf die Middle oder die Upper Class weniger zutreffe.
Nachdem letzte Woche im Trubel der Ereignisse die Enthüllung unterging, dass führende Brexiteers wie Boris Johnson und Ex-Austrittsminister David Davies zigtausende Pfund von der als rare Pro-Brexit-Stimme der britischen Wirtschaft auftretende Baggerfirma JCB bezogen haben, möchte man Harris widersprechen. Da steckt schon ein gewisser, wenn auch nicht gerade sozialer Sinn hinter der Geste. Aber dann kommt einem wieder einer wie Charles Moore unter, der aristokratische Biograf von Margaret Thatcher, der im "Daily Telegraph" als Alternative für importierte Lebensmittel die Vorzüge von Wurzelgemüse preist, wie er es früher in den kalten Jahreszeiten gegessen habe. Tatsächlich waren die Britischen Inseln schon in den Tagen des Empire nicht fähig, sich selbst mit Nahrung zu versorgen, aber das scheint dem Herrn Historiker entgangen zu sein.
Nun hat Theresa May also ihre einzige Karte im "Mein Deal oder kein Deal" zerschnitten, indem sie dem Parlament eine Demontage ihres eigenen Deals empfahl, in der Hoffnung, Brüssel würde ihr einen neuen geben. Und je einiger von ebendort ein "Nein" zurückschallt, desto stärker wird in der britischen Blase die Überzeugungen, es handle sich um einen Bluff. Und überhaupt: Es wäre doch bloß vernünftig, erklärte der BBC-Radio-Veteran John Humphrys der bewundernswert geduldigen irischen Europaministerin Helen McEntee, wenn Irland aus der EU aus- und einem gemeinsamen Wirtschaftsraum mit Großbritannien beiträte. Ein uneinsichtiger Haufen, diese Ex-Kolonien. Und undankbar.
Indessen widmet sich der Oppositionsführer Jeremy Corbyn hauptsächlich seiner vorrangigen Aufgabe, den Vorstoß der Zentristen abzuwehren, die mit ihrer Forderung nach einem Zweiten Referendum seine Autorität bedrohen. Eh nicht wirklich, denn ihre Zahlen sind so gering, dass sie vorläufig auf einen Antrag im Unterhaus verzichteten. Ist ja noch jede Menge Zeit.
Oder auch nicht, denn vierzehn aus den Labour-Reihen, darunter die prinzipientreue alte linke Legende, der dienstälteste Parlamentarier Dennis Skinner, stimmten gegen den von der eigenen Seite eingebrachten Antrag zur Verlängerung des Artikel-50-Prozesses, wofür ihnen die beharrlich desinformierte britische Arbeiterklasse noch auf dem Flug über die Klippen gewiss danken wird.
"Durchs Abflussrohr robben"
Neulich stand ich in der Küche der feministischen Bestseller-Autorin Caitlin Moran, als sich unser Gespräch unausweichlich der herannahenden Katastrophe zuwandte: "Ich habe lange gedacht, dass es nicht so schlimm werden würde", sagte Moran, "aber ich glaube jetzt, dass es noch ein gutes Stück schlimmer werden muss. Ich glaube, wir werden brexiten müssen, und die Leute werden leiden müssen, und wir werden zehn Jahre lang durchs Abflussrohr robben müssen, bevor wir uns wieder daran erinnern, warum wir all diese Verbindungen aufgebaut haben. Es scheint derzeit einfach nicht möglich, diese Dinge rüberzubringen, weil wir an einem Punkt der Internet-Ära sind, wo die Leute Gedanken mit Emotionen verwechseln. Was für Fakten man den Leuten auch präsentiert, sie werden sagen: Wir sollten es einfach machen. Fuck it!"
Und schuld an dem Elend, das weiß man schon jetzt, ist dann die EU. Vor allem aber die Iren.
"Ein wirklich großer Grund dafür, dass die Leute Brexit haben wollen, ist dass wir heimlich gar kein großes Land mehr sein wollen", meinte Moran, "Wir wollen uns nicht mehr in internationale Politik verwickeln, wir wollen nicht am großen Tisch sitzen und uns mit dem Klimawandel auseinandersetzen. Die Leute, die jetzt am Ruder sind, wissen, dass es nie wieder so gut wird wie damals, als wir ein Empire hatten. Sie wären lieber ein kleiner, weißer Steuerschlupfwinkel, der sich keine Sorgen um große Ideen zu machen braucht. Wir sind wie ein alter Offizier im Ruhestand, der einfach in seinem Haus sitzen, einmal in der Woche Mittagessen gehen und ansonsten nur Golf spielen will. Es ist ein erschöpfter politischer Prozess. Ich für meinen Teil kaufe mir eine Farm in Wales, ich werde meine eigene Wasserversorgung und trockene Früchte im Keller haben, ich bin bereit dafür, dass die Gesellschaft zusperrt." Klingt nach einer guten Idee.