Wohnungskampf in der Luxusmetropole - Hausbesetzungen à la française.
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Paris. "Rue des promesses oubliées" - Straße der vergessenen Versprechen - steht in weißen Buchstaben auf einem Pappschild neben der Eingangstür des sandsteinfarbenen Gebäudes, das im Norden von Paris zwischen den Bahnhöfen Gare du Nord und Gare de l’Est liegt. Bunte Malereien schmücken die Fassade: Akrobatische Gestalten auf blauem, gelbem, oder rotem Hintergrund heben das Gebäude vom einheitlichen Grau der übrigen Häuser ab. Die Straße der vergessenen Versprechen heißt eigentlich Rue de Valenciennes. Und das Gebäude mit der bunten Fassade wird seit zwei Jahren besetzt. Anfang 2013 haben sich mehr als vierzig Menschen illegal in dem leer stehenden Haus niedergelassen.
Hinter der Aktion steht das Kollektiv Jeudi Noir (deutsch "schwarzer Donnerstag"). Seit 2006 besetzen seine Mitglieder leer stehende Häuser, oft in den nobelsten Ecken der Stadt. Ihr Ziel: die " katastrophale Situation des Pariser Wohnungsmarktes" anzuprangern. Paris zählt laut dem Beratungsunternehmen ECA International zu den zehn Städten mit den teuersten Mietpreisen Europas. Für viele Franzosen sind Wohnungen in der Hauptstadt nicht mehr leistbar. Zugleich stehen in der Metropole etwa siebenProzent der Unterkünfte leer.
"Wir wurden vom System ausgeschlossen"
"Seit Jahren versprechen die Politiker etwas gegen die Wohnungskrise in Paris zu unternehmen, aber das Ergebnis bleibt aus. Also besetzen wir", erklärt Alix Dreux, Mitbegründer des Kollektivs. Mit seinem Namen spielt Jeudi Noir auf die Wohnanzeigen an, die jeden Donnerstag erscheinen und zahlreiche Mieter verzweifeln lassen. Angebote wie: "Einzimmerwohnung 14 m2, 650 Euro pro Monat" sind da keine Seltenheit. Viele Agenturen verlangen auch ein Monatseinkommen, das dreimal der Miete entspricht, und einen unbefristeten Arbeitsvertrag.
Als Musiker verdient Alix Dreux zwar seinen Lebensunterhalt, konnte diese Kriterien aber nicht erfüllen. Seinen Freunden ging es ähnlich: "Wir wurden wie viele andere vom System ausgeschlossen." Aus Protest feiert die Gruppe in den Wohnungen, die zur Besichtigung stehen, illegale Partys. Schnell wurden die Medien auf die Aktionen aufmerksam. "Das hat uns motiviert, weiterzumachen und für eine Regulierung der Pariser Wohnungspreise einzutreten", so Dreux. Am Place de la Bourse im Zentrum der Stadt besetzte Jeudi Noir 2007 ein leer stehendes Gebäude. Nach einem Jahr Ausharren wurde das Haus schließlich von der Stadt gekauft und in Sozialwohnungen umgewandelt. "Unser schönster Erfolg", erinnert sich Dreux.
Ein ähnliches Ergebnis erhofft sich der 40-Jährige auch in der Rue de Valenciennes. Das Kollektiv hat dort Menschen untergebracht, die keine Wohnung finden konnten: junge Berufstätige, Künstler und Studenten. Die Stadt hat angekündigt, das Gebäude kaufen zu wollen. Verhandlungen sind derzeit im Gange.
Aus ungenutzten Büroräumen wird Wohngemeinschaft
Auch die ehemalige Wohnungsministerin Cécile Duflot hat den Besetzern ihre Unterstützung ausgesprochen. "Selbst wenn wir unterschiedliche Rollen einnehmen, treten wir doch für dieselbe Sache ein. Es ist ärgerlich, dass zahlreiche Häuser leer stehen, wenn diese als Sozialwohnungen Menschen helfen könnten", bestätigt Paul Simondon, stellvertretender Bürgermeister des 10. Arrondissements, in dem sich die Rue de Valenciennes befindet. Der Eigentümer des Gebäudes, eine internationale Holdinggesellschaft, ließ die ehemaligen Büroräume mit einer Fläche von 1700 m2 zwei Jahre lang ungenutzt.
Heute erinnert das Haus an eine normale Wohngemeinschaft. Im Gemeinschaftsraum bildet eine bunte Ansammlung von Sofas eine gemütliche Sitzecke. Als Tisch dient eine rot bemalte Holzpalette. Die Büros werden als Zimmer genutzt. In der Küche brüht sich Didier Boiteau, 41, eine Tasse Tee. Vorsichtig gießt er Wasser aus einer großen Plastikflasche in den Teekocher. Fließendes Wasser gibt es in diesem Teil des Gebäudes nicht. Der Musiker lebt seit einem Jahr in der Rue des Valenciennes. Als die Miete seiner Wohnung erhöht wurde, konnte er sie nicht mehr bezahlen. Also stand er vor der Wahl: zurück zu seinen Eltern, die Stadt verlassen oder besetzen. Didier Boiteau entschied sich für Letzteres: "Zu Beginn ging es mir vor allem ums Geld. Aber inzwischen ist mir auch die Sache, für die Jeudi Noir eintritt, wichtig."
Hausbesetzer halten ihr Verhalten für legitim
Bei der Rue de Valenciennes handelt es sich um die zehnte Hausbesetzung des Kollektivs. Leer stehende Gebäude finden die Mitglieder oft zufällig, beim Spazieren durch die Stadt. Um sicher zu sein, dass dort niemand wohnt, bringen sie Klebestreifen vor der Tür an. Sind diese nach einigen Tagen noch da, ist das ein Anzeichen dafür, dass dort keiner ein und aus geht. Dann dringen die Besetzer unauffällig in das Gebäude ein, etwa über den Hinterhof.
"Um nicht so leicht vertrieben werden zu können, müssen wir zeigen, dass wir hier wohnen. Also bringen wir Matratzen, Sofas und andere Einrichtungsgegenstände mit", erklärt Alix Dreux. Oft richten sie auch eine Telefonleitung ein, um eine Rechnung auf ihren Namen vorweisen zu können. Nach etwa einer Woche macht Jeudi Noir ihre Besetzung über die Medien bekannt. Manchmal rückt die Polizei gleich danach an, um das Gebäude zu räumen, manchmal lässt sie das Kollektiv gewähren.
Die Eigentümer reichen fast immer Klage gegen die Besetzer ein. Auch gegen die Bewohner des Gebäudes in der Rue de Valenciennes läuft ein Gerichtsverfahren. "Uns ist natürlich bewusst, dass wir schwer verschuldet aus dieser Sache herausgehen könnten", gibt Didier Boiteau zu. Den illegalen Aspekt seines Engagements verdrängt er: "Ich fühle mich nicht wie ein Dieb." "Was wir machen, ist illegal, aber legitim", wirft Alix Dreux ein. "Wenn sich die Situation in Paris nicht ändert, leben hier bald nur mehr Millionäre - und Hausbesetzer."