Brief eines ehemaligen Flüchtlings an seine zweite Heimat.
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Liebes Österreich, was ist los mit dir? Ich erkenne dich nicht wieder!
Ich will nicht jammern, aber früher warst du echt nicht so fremd und so weit weg von deinen Prinzipien. Mir scheint fast, als spürtest du dich selbst nicht mehr, als wärst du zerrissen, irritiert, zwischen den Welten gefangen und dir nicht mehr sicher, wofür du stehst.
Als wir uns kennenlernten, waren meine Eltern und ich gerade aus unserer Heimat geflohen. Wir flohen, weil wir nicht sterben wollten. Wir flohen, weil wir für unsere Freiheit einstanden - ein Gut, für das du seit jeher stehst und das dich zur Heimat von Millionen macht. Wir flohen, weil unser Gedankengut andere störte. Wir flohen, weil wir mussten. Unfreiwillig, ungeplant, ungewollt.
Wir verloren alles: Heimat, Freunde, Familien, einen Teil unserer Identität - und fanden sie bei dir, unserem neuen Freund, der uns aufnahm, als es am nötigsten war. In dir fanden wir Frieden, sahen wir Hoffnung, entdecken wir Ruhe und Weitsicht, fanden wir unsere neue Heimat - eines Tages auch die meiner Kinder.
So dachte ich zumindest.
Ich wuchs bei dir auf, wurde ab und zu damit konfrontiert, dass ich nicht willkommen war - aber auf jeden, der mich ablehnte, kamen Hunderte, die mich mit offenen Armen aufnahmen und dabei unterstützten, der Mensch zu werden, der ich heute bin. Als ich die Schule hinschmiss, warst du darauf vorbereitet, botest mir Alternativen, und ich konnte aus meinem Fehler lernen, studieren, arbeiten und selbst Arbeitsplätze schaffen . . . Ich konnte, als einst Fremder und in den Augen vieler als "Fehler im System" abgestempelt, in diesem Land meine eigenen Schritte gehen, meine Träume leben, meine Fußstapfen hinterlassen. Ohne dein geordnetes Umfeld, deine vielfältige Kultur, deine sanfte und diplomatische Weitsicht wäre ich vermutlich untergegangen - bei dir konnte ich mich aber immer selbst überraschen und Wege gehen, die mir in anderen Ländern dieser Welt wohl verschlossen geblieben wären.
Ich habe den Großteil meines Lebens bei dir verbracht, weiß aber nicht, ob ich auch den Rest bei dir verbringen möchte. Du bist - auch wegen deiner Offenheit für Vielfalt - einer der herzlichsten und lebenswertesten Orte dieser Welt - und doch hast du dich verändert. Du hast vergessen, dass Menschen, die bei dir Zuflucht suchen, dies nicht aus Habgier tun. Du hast vergessen, dass du als Symbol für Neutralität und Sicherheit ein Vorbild für Hoffnung bist.
Du hast vergessen, dass es auch Fremde und Gäste waren, die dich groß gemacht haben. Du hast vergessen, dass Toleranz die Größe ist, die Hetze und Fremdenverachtung überbrückt. Du hast vergessen, dass du viel mehr bist als nur ein Flüchtlingsheim, dessen Name derzeit für Unmenschlichkeit, Leid und Unfähigkeit steht. Ganz ehrlich, das hast du nicht nötig. Steh auf und besinn dich auf deine Stärken zurück! Steh auf und sorg verdammt noch mal dafür, dass österreichische Gastfreundschaft nicht nur ein Modewort zwischen Schanigärten und Cafés bleibt! Steh auf und zeig allen, dass Österreich mehr als nur die Kombination von "Sound of Music" und Hetze gegen Fremde ist!
Es ist nicht leicht, ich weiß - aber wenn eine Seele dieser Welt Ruhe, Freundschaft und Weitsicht in sich vereint, dann deine. Mach mich wieder stolz, ich glaube an dich!