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Bestseller aus der Greißlerei

Von Christian Hütterer

Reflexionen
Was ist wahr und was erfunden in Alja Rachmanowas Tagebüchern?
© ullstein bild / RDB

Als "Milchfrau in Ottakring" wurde sie bekannt, vor 125 Jahren wurde sie geboren: Erinnerung an eine vergessene Erfolgsautorin.


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Es gab sicherlich bessere Zeiten, um als Migrantin nach Österreich zu kommen. Wirtschaftliche Probleme und politische Radikalisierung dominierten die Erste Republik, als am 17. Dezember 1925 Arnulf von Hoyer, seine Frau Alja Rachmanowa und der vier Jahre alte Sohn Jurka in Wien aus einem Zug stiegen. Für den Mann war es nach Jahren im Exil eine Heimkehr, für Frau und Kind bedeutete dieser Tag einen Neustart in einem fremden Land.

Alja Rachmanowa wurde als Galina Djuragina am 27. Juni 1898 in der Stadt Kasli an den Ausläufern des Urals in eine großbürgerliche Familie geboren. Sie wuchs in behüteten Verhältnissen auf, bis der Erste Weltkrieg und noch mehr die Oktoberrevolution das ruhige und idyllische Leben in der Provinzstadt beendeten.

Als Jugendliche begann sie, Tagebücher zu schreiben, in denen sie private Gedanken, aber auch die Entwicklungen und Umbrüche der Zeit festhielt. Allerdings verschwamm darin die Grenze zwischen Realität und Fiktion, denn spätere Literaturwissenschafter fanden einige Unstimmigkeiten zwischen den Schilderungen Rachmanowas und den Quellen in verschiedenen Archiven.

Ende der Idylle

Ob wahr oder erfunden, die drei Tagebücher, in denen Rachmanowa ihre Erlebnisse zwischen 1917 und 1927 schildert, machten sie zu einer Bestsellerautorin. Der erste Band trägt den Titel "Studenten, Liebe, Tscheka und Tod" und damit ist auch schon vieles gesagt. Die Autorin erzählt von ihren Jugendjahren, die friedlich verlaufen, bis die politischen Umbrüche der Zeit in ihr Leben dringen. Am Beginn der Aufzeichnungen steht ein heimeliges Familienfest zum 16. Geburtstag des Mädchens, aber die Revolutionen im fernen Petersburg erschütterten bald die ländliche Idylle: Auch in der Provinz wurden die alten Eliten verhaftet und durch neue, revolutionäre ersetzt. Die gewohnte Ordnung löste sich auf und Rachmanowa, die aus dem gehobenen Bürgertum stammte und dessen Werte vertrat, stand voller Entsetzen vor diesen Umwälzungen.

"In der Stadt haust schon den dritten Tag der entmenschte, besoffene Pöbel", vertraute sie ihrem Tagebuch an, doch es sollte noch schlimmer kommen. Eine Welle der Gewalt rollte durch das Land, Rachmanowa wurde Zeugin grausamer Morde und der Bürgerkrieg zwischen "Roten" und "Weißen" sorgte dafür, dass sich die Lage noch weiter verschlechterte.

Als die Rote Armee vor den Toren der Stadt stand, floh die Familie. Mitnehmen konnten sie nichts, "nicht einmal eine einzige Garnitur Wäsche". Überall sah Rachmanowa "Menschen, die an keine Rettung mehr glauben, für die alles verloren ist". Die Fahrt im überfüllten Zug nach Osten war ein Albtraum und "es vergeht keine Stunde, in der nicht in unserem Zug jemand stirbt".

Alja Rachmanowa in späten Jahren im schweizerischen Ettenhausen, circa 1965.
© ETH Library / CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0) / via Wikimedia Commons

Schließlich kam die Familie im sibirischen Irkutsk an, musste dort unter ärmlichen Umständen leben, war aber zumindest der größten Gefahr entronnen. Rachmanowa konnte ihr Studium der Psychologie und der Literaturwissenschaft abschließen und verdiente danach ihr erstes Geld als Bibliothekarin. In Irkutsk lernte die nun 22 Jahre alte Alja einen österreichischen Kriegsgefangenen namens Arnulf von Hoyer kennen, in den sie sich verliebte. Arnulf verzichtete aus Liebe auf die Heimreise nach Österreich - und wenige Monate später heirateten die beiden.

Bald wurde ihr Sohn Jurka geboren, aber das familiäre Glück stand in einem eklatanten Kontrast zu den erbärmlichen Lebensbedingungen in der jungen Sowjetunion. Hunger, Not und die dauernde Angst vor der Geheimpolizei Tscheka machten das Leben schwer. Trotzdem konnte sich die junge Familie eine bescheidene Existenz aufbauen, Rachmanowa unterrichtete Kinderpsychologie, ihr Mann fand eine Stelle als Philologe an der Universität. Doch dann war von einem Tag auf den anderen alles anders: 1925 wurde die Familie ohne Angabe von Gründen aus dem Land gewiesen und entschied sich, in Arnulfs alte Heimatzurückzukehren.

Die Ankunft in Wien war ernüchternd. Arnulf war nun zwar wieder in Österreich, aber die wirtschaftlichen Verhältnisse im Land machten den Neustart schwer. Arbeit war nicht zu bekommen und die wenigen Ersparnisse schwanden, auch wenn die Familie so bescheiden wie möglich lebte. Der Studienabschluss, auf den Rachmanowa so stolz war, half ihr nicht weiter: "Was habe ich nun davon, dass ich die Universität beendigt habe? Hier im fremden Land sind alle Dokumente über meine Studien nichts als wertlose Papierfetzen."

Rettung brachte ein Freund Arnulfs, er borgte dem Paar 3.500 Schilling und die beiden konnten damit eine Greißlerei übernehmen. Der Großteil der Arbeit blieb an Alja hängen, denn während sie im Geschäft stand, ging Arnulf auf die Universität. Er hatte vor dem Krieg ein Studium begonnen, es aber wegen der Einberufung zum Militär nicht abschließen können und hatte die fehlenden Prüfungen in der Gefangenschaft absolviert. Seine russischen Zeugnisse wurden in Wien aber nicht anerkannt, und so musste er nachsitzen, um das österreichische Diplom zu bekommen.

Geteilte Resonanz

Das Geschäft bot der Familie ein mickriges Auskommen, entsprach aber bei weitem nicht dem, was sich Rachmanowa für ihr Leben vorgestellt hatte: "Ich Milchfrau! Ich wollte Universitätsdozentin sein und bin Milchfrau geworden."

© Amalthea

Es war im wahrsten Sinn des Wortes ein Groschengeschäft, die Familie kam zwar über die Runden, musste aber zu dritt in einem einzigen, noch dazu finsteren und feuchten Hinterzimmer des Geschäfts wohnen. Nach eineinhalb harten Jahren kamen endlich gute Neuigkeiten: Arnulf legte die letzten Prüfungen ab und das so sehr herbeigesehnte geregelte Einkommen war in Sicht, denn er bekam eine Anstellung in Salzburg.

Schon als Greißlerin hatte Rachmanowa mit dem Gedanken gespielt, als Schriftstellerin Geld zu verdienen. Sie schickte mehrmals Erzählungen an Wiener Zeitschriften, kassierte aber nur Absagen. Erst nach der Übersiedlung nach Salzburg erschien 1931 der erste Band der Tagebücher und wurde gleich zu einem großen Erfolg, bald darauf wurden zwei weitere Bände veröffentlicht. Am populärsten war jener über die ersten Jahre in Österreich, der unter dem Titel "Milchfrau in Ottakring" für Aufsehen sorgte. Das Buch war ab dem ersten Tag ein Bestseller und erreichte innerhalb eines Jahres 26 Auflagen.

Das Publikum war begeistert, die Kritiker reagierten allerdings unterschiedlich. Die christliche "Reichspost" kam aus dem Lob nicht mehr heraus und schrieb, dass die Bücher in "ungezählten Zeitschriften und Zeitungen Österreichs, Deutschlands und des Auslands besprochen und hervorragend gut bewertet" wurden. Die Tagebücher wurden dort als "ein literarisches Ereignis" geschätzt, "übervoll von echtem, starken, glühendem Leben, ein zutiefst erschütterndes Werk".

Die linke "Arbeiter-Zeitung" sah das ganz anders: Rachmanowa wurde hier als ein wohlbehütetes Mädchen dargestellt, das "nichts wusste von den arbeitenden Menschen, die ihr fremd und verächtlich waren", und kam daher zu dem Schluss: "Rachmanowa ist ein Mensch, der das große Geschehen der russischen Revolution von 1917 nicht versteht, und es ist ein Buch, das uns deswegen wenig zu sagen hat."

© Otto Müller

Als gläubige und in einem bürgerlichen Haus aufgewachsene Frau stand Rachmanowa im russischen Bürgerkrieg klar auf der Seite der Weißen. Im Zweiten Weltkrieg wurde ihre Popularität, aber auch ihre klare Parteinahme gegen die Bolschewiken instrumentalisiert. Die Nazis ließen Rachmanowas Bücher ins Russische übersetzen und in Osteuropa verteilen, um Stimmung gegen die Sowjets zu machen. Bis heute ist nicht geklärt, ob dies ohne ihr Wissen geschah oder ob die Autorin zustimmte, dass ihre Bücher propagandistisch verwendet wurden.

Fraglich ist auch, ob Rachmanowa ein Opfer des Nationalsozialismus war, wie sie selbst und einige Biographen behaupten, oder ob sie vielmehr eine überzeugte Anhängerin des Regimes war, wie Kritiker meinen. In ihrem Nachlass wurden Honorarnoten gefunden, die belegen, dass Rachmanowa während der Nazizeit für das deutsche Auswärtige Amt gearbeitet hat. Sie muss sich daher auf jeden Fall vorhalten lassen, dass sie von den beiden totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts eines verurteilte, im anderen aber zumindest mitarbeitete.

Im Frühling 1945 fiel Jurka, das einzige Kind der Familie, in der Schlacht um Wien. Rachmanowa und Hoyer flohen aus Angst vor der Roten Armee in die Schweiz, wo sich die beiden im Kanton Thurgau niederließen. Rachmanowa schrieb weiter und spezialisierte sich dabei auf die Biografien bekannter russischer Persönlichkeiten. Wie schon bei ihren Tagebüchern übernahm ihr Mann die Übersetzungen. Als er 1971 starb, bedeutete das auch das Ende der literarischen Karriere von Rachmanowa. Sie überlebte ihren Mann um zwei Jahrzehnte, sah noch den Zerfall der Sowjetunion und starb im Februar 1991.

Fiktionalisierungen

Gedenktafel am Haus Hildebrandgasse 16 in Währing.
© Herbert Ortner / CC BY 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0) / via Wikimedia Commons

Bis heute ist ungeklärt, wo in den drei Tagebüchern, die den Ruhm und den Erfolg Rachmanowas als Schriftstellerin begründeten, die Grenze zwischen Fakten und Fiktionen verläuft, was darin wahr und was erfunden ist. In diesen vermeintlich dokumentarischen Büchern dürfte zwar vieles selbst erlebt sein, aber Rachmanowa änderte zahlreiche Angaben wie ihr Geburtsdatum, den Beruf des Vaters, die Namen von Personen und Orten. So wird etwa der Österreicher Arnulf von Hoyer im Buch zu einem Deutschen namens Otmar und die Greißlerei, die Rachmanowa betrieb, lag in Wirklichkeit in der Hildebrandgasse in Hernals beziehungsweise Währing, und nicht wie im Titel ihres populärsten Buches in Ottakring.

Unklar ist auch, wie die Arbeit zwischen Rachmanowa und ihrem Mann, der die Übersetzungen ins Deutsche übernahm, verteilt war. In Rachmanowas Nachlass wurden Typoskripte gefunden, die zwar in russischer Sprache verfasst waren, die allerdings mit lateinischen Buchstaben und lautmalerisch niedergeschrieben waren. Wie groß der Beitrag ihres Mannes zu ihrer literarischen Tätigkeit war, kann nicht völlig geklärt werden.

Bis heute bleibt also manches in Rachmanowas Tagebüchern zweifelhaft. Die Schilderung des Erlebten (oder eben doch nicht Erlebten) gelingt ihr (oder vielleicht ihrem Mann) aber so gut und wirkt zumindest so glaubwürdig, dass man rasch in den Bann der Erzählungen gezogen wird. 125 Jahre nach ihrer Geburt lassen sich aber viele Rätsel um Alja Rachmanowa nicht mehr lösen.

Christian Hütterer, geboren 1974, Studium der Politikwissenschaft und Geschichte in Wien und Birmingham, schreibt Kulturporträts und historische Reportagen.