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Frau Mugli ist eine elegante Dame, die grauen Locken frisch frisiert, die Hände manikürt, ein Seidentuch um den Hals gewickelt und den Rücken gerade durchgedrückt, als hätte sie einen Besenstiel verschluckt - so wie man ihr das als junges Mädchen eingetrichtert hat. Neben ihr döst Manfred Richter in seinem Rollstuhl. Reinhardt Mühlethaler, von allen nur Reini genannt, flirtet mit einer jungen Betreuerin, und Frau Müller hätte gerne noch ein Cola.
Eine Gruppe alter Leute, mit Krücken, Gehhilfen oder in das Aluminium ihrer Rollstühle gefesselt, unfähig, sich mitzuteilen, weil sie ihre Sprache verloren oder eine eigene erfunden haben. Gefangen in Geist und Körper: die Gäste von Baan Kamlangchay, dem Alzheimerzentrum am Stadtrand von Chaing Mai im Norden Thailands.
Sie genießen den Schatten eines Tamarindenbaums im Innenhof eines Klosters, umgeben von Buddhafiguren aus weißem Marmor und goldenen Türmchen. Eine Zauberwelt, die so gar nichts mit ihrer Heimat in Deutschland oder der Schweiz gemeinsam hat. Vor ihnen Garküchen mit Töpfen, in denen Fisch oder Suppe köchelt. Es riecht nach gebratenem Schweinefleisch, marinierten Rinderspießchen und Zitronengras. Ab und zu kommt ein freundlicher Mensch vorbei: Die Frau von der Garküche stellt ein paar Schüsseln gebratene Nudeln und Suppe vor die älteren Herrschaften und verbeugt sich, die Hände vor die Brust gefaltet, die thailändische Geste des Respekts.
Eine Mutter setzt ihr Kind auf Elisabeth Muglis Schoß, das Kind streicht ihr übers Gesicht und lächelt die alte Dame an. Victor Sammer sitzt ein bisschen abseits auf einem roten Plastikschemel, den er überall hin mitnimmt, denn er hält gern Abstand. 28 Grad im Schatten, aber Victor Sammer hat eine warme Jacke angezogen, man weiß ja nie, ob es nicht gleich zu schneien beginnt. Vor drei Tagen hat er seinen 81. Geburtstag gefeiert. Die Einheimischen scherzen in einer Sprache, welche die Fremden aus Europa nicht verstehen, aber sie lachen mit. Und wenn man sie ein bisschen später fragt, wie ihnen der Ausflug gefallen hat, dann schauen sie erstaunt und fragen: "Welcher Ausflug?"
Wer das Heim Baan Kamlangchay besuchen möchte, muss in das Örtchen Faham fahren, einer ruhigen Siedlung eines Vorortes von Chiang Mai, Thailands zweitgrößter Stadt. Keine Spur vom Trubel und Hektik, weder Smog noch Lärm. Hier schließen die Nachbarn ihre Türen nachts nicht ab, Kinder spielen auf den Straßen Federball und Verstecken. Das nächste Krankenhaus ist nur ein paar Minuten mit dem Auto entfernt, wichtig für die zehn Demenzkranken im Alter von 61 bis 88 Jahren.
Respekt vor dem Leben - und frische Windeln
Martin Woodtli, der Gründer des Heims, sitzt am Computer seines Büros und korrespondiert mit den Angehörigen seiner Patienten. Im Wohnzimmer spielt seine thailändische Frau Areewan mit dem gemeinsamen Sohn, und in der Küche bereiten Angestellte das Mittagessen für die zehn Gäste vor. Woodtli nennt sie Gäste, nicht Patienten, das ist ihm wichtig: "Das zeigt Respekt vor einem gelebten Leben, das langsam zu Ende geht."
"Es ist heute ein bisschen hektisch", sagt er und dabei fällt ihm ein, dass er dringend neue Windeln besorgen muss. "Die Pampers sind aus!", sagt er laut zu sich selbst. Vor acht Jahren hat er das Heim gegründet und inzwischen wohnen zehn Patienten in sechs Häuschen, die von dreißig Pflegern und Krankenschwestern rund um die Uhr betreut werden. Der Name des Heims bedeutet übersetzt: Betreuung des Herzens.
Das thailändische Abenteuer begann für Martin Woodtli mit einem Schicksalsschlag in Münsingen bei Bern. Seine Mutter war an Alzheimer erkrankt und sein Vater nahm sich daraufhin - aus Gram und Trauer, dem geistigen und körperlichen Verfall seiner Frau tatenlos zusehen zu müssen - das Leben. Den Sohn ließ er mit der Frage zurück: "Was soll ich jetzt mit der Mutter machen?" Neun Monate pflegte Woodtli seine Mutter zu Hause, "ständig musste man aufpassen, dass nichts passiert". In dieser Zeit sah er sich mehrere Pflegeheime in der Schweiz an. Aber die Art und Weise, wie man dort alte und kranke Menschen behandelt, fand er "völlig unzumutbar". Das Personal habe zu wenig Zeit für zu viele Patienten, und wenn es einmal hektisch wird, werden die Alten an ihre Stühle gefesselt, damit sie nicht randalieren oder aus dem Heim ausbüchsen, während der Pfleger durch die Stationen hetzt. "Das wollte ich meiner Mutter nicht antun", sagt Woodtli. Außerdem wären die Ersparnisse seiner Eltern innerhalb von zwei Jahren aufgebraucht gewesen, "für mindere Pflege in trister Atmosphäre". Nein, danke.
Die schwierigste Phase sei für ihn zu Beginn gewesen, als sich seine Mutter Gesicht mit Zahnpasta einrieb und meinte, dass dies "völlig normal" sei. Wenn sie sich in ihrem Zimmer einsperrte und hysterisch lachte, gefangen im Labyrinth ihrer Erinnerungen. Mit 73 Jahren hätte seine Mutter etwas Besseres verdient, fand Woodtli. Er wollte, dass sie geistig gefordert wird, dass sie trotz ihrer Krankheit Eindrücke bekommt, dass sich jemand um sie kümmert. "Ich wollte mit ihr noch etwas Abenteuerliches erleben. Lebensqualität ist doch besser als Langlebigkeit!" Er suchte nach einer Lösung, wie tausende andere Familien auch. Bis er sich an Thailand erinnerte.
Woodtli kannte die Kultur, die Menschen und die Sprache Thailands. In den 1990er Jahren arbeitete er vier Jahre lang für ein Aids-Projekt der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" in Chiang Mai. Und er wusste, wie Thais mit alten Menschen umgehen. "Sie betrachten das Nachlassen von geistigen und körperlichen Fähigkeiten als ganz normalen Prozess. Die Jungen kümmern sich um die Alten, das ist selbstverständlich."
Die beste aller
schlechten Lösungen
Eine Idee reifte in seinem Kopf, nahm Besitz von ihm. Sie schien die beste aller schlechten Lösungen zu sein. Im Dezember 2003 setzte er sich mit seiner Mutter in ein Flugzeug und flog nach Thailand, gegen den Rat von Freunden und Ärzten. Diese versuchten ihn von seinem Vorhaben abzubringen, redeten ihm zu, machten ihm Vorwürfe. Menschen, die sich nicht mehr in ihrer gewohnten Umgebung zurechtfinden, bringe man nicht in ein Land, in dem sie sich nicht auskennen, sagten sie. "Einen alten Baum verpflanze man nicht."
Woodtli hat die Argumente tausendfach gehört, tausendfach darüber nachgedacht und diskutiert. Mit Menschen, die es für selbstverständlich halten, billige Krankenschwestern aus osteuropäischen Ländern zu importieren, es aber moralisch verwerflich finden, sich bestmögliche Pflege im Ausland zu suchen. Aber seine Idee hat ihn zu einem gefragten Mann gemacht.
Häufig bekommt er Anfragen, Angebote, Hilferufe. Von Menschen, die nicht mehr wissen was sie mit ihren Angehörigen machen sollen. Von Geschäftsleuten, die Profite aus der Pflegemisere in der Heimat schlagen wollen. Denn so könnte die Pflege der Zukunft aussehen, für eine Gesellschaft, die immer älter wird, und in welcher Pflegenotstand schon heute für tausende Familien zum Alltag gehört. Woodtli hört sich die Angebote an, hat aber kein Interesse daran. Es würde gegen sein Konzept der familiären Atmosphäre verstoßen. Und neue Gäste kann er sowieso nicht mehr aufnehmen - kein Platz, keine Zeit.
"Ich werde immer wieder gefragt, ob ich nicht noch mehr ausbauen möchte, damit diese wunderbare Dienstleistung von mehreren pflegebedürftigen Menschen in Anspruch genommen werden kann. Investoren wollten geeignete Ressorts kaufen und mir zur Verfügung stellen. Ich glaube aber nicht an die Funktionalität und Qualitätssicherung eines Großprojektes mit fünfzig oder mehr Betten." Diese Nachahmer, kritisiert er, setzen sich "zu hohe Ziele im lukrativen Bereich." Ihnen fehle es oft an der ehrlichen Motivation.
Auf hohen Profit verzichtet Woodtli lieber. Er kann von seinem Unternehmen ganz gut leben, das reicht. Mit Baan Kamlangchay habe er ein familiäres und integratives Modell entwickelt, welches sowohl den Gästen als auch den Betreurinnen eine Art Heimatgefühl vermittelt. Dadurch, dass das Heim in die Dorfstrukturen eingebettet ist, erleben die Gäste einen natürlicheren Alltag, im Gegensatz zu geschlossenen Institutionen. "Die vielen Neuanfragen, die ich immer wieder bekomme, zeigen meines Erachtens den Bedarf an neuen Formen der Betreuung, wo ein natürlicher und zärtlicher Umgang mit Demenzkranken möglich sein kann. Dies muss nicht zwingend in Thailand stattfinden. Dass dies in meinem Fall hier realisiert wird, hängt mehr mit meiner persönlichen Lebengeschichte zusammen."
Drei Betreuerinnen für einen Kranken
In Thailand haben alte Leute das Recht, anders zu sein, erzählt Woodtli. Da passt der Kellner eines Restaurants auf einen Patienten auf, während der Pfleger zur Toilette eilt, und wenn ein alter Herr auf dem Markt einen Apfel stibitzt, zuckt der Verkäufer nur mit den Schultern. "Alte Menschen genießen eben großen Respekt. Anders als in Europa, wo die Leute beschämt wegschauen, wenn sich Demenzkranke einmal daneben benehmen."
In Europa werden Demenzkranke mit Medikamenten ruhig gestellt oder mit Gurten in ihren Rollstühlen fixiert, in denen sie alleine darüber grübeln, wer sie einmal gewesen sind. Oder sie werden mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt, damit sie keinen Anfall bekommen und keinen Ärger machen. In Baan Kamlangchay ist das alles nicht nötig. Drei Betreuerinnen kümmern sich in drei Schichten um einen Kranken, täglich, rund um die Uhr.
Die sprachliche Distanz wird mit Menschlichkeit überbrückt: Gestik, Mimik, Blickkontakte. Berührungen, kleine Massagen, Händchen halten, Umarmungen, Zärtlichkeiten dienen als Kommunikationsmittel. Zuwendungen, für die in der durchstrukturierten Welt der Pflegeheime in der Heimat weder Zeit noch Geld übrig ist. "Für Europäer mag das ungewohnt klingen, in Thailand ist das ganz normal."
In Haus Nummer sechs kümmert sich die 26-jährige Umphorn um den 81 Jahre alten Victor Sammer. Seit drei Jahren pflegt sie den Alzheimer-Patienten - und in dieser Zeit ist sie zu einer Mischung aus Bezugsperson, bester Freundin und Ersatzenkelin geworden. Jetzt sitzen die beiden gemeinsam auf dem Sofa und spielen Jassen, und weil Victor nicht verlieren kann, lässt Umphorn ihn ständig gewinnen. Dafür zwingt sie ihn sachte, nach jedem Spiel einen Schluck Wasser zu trinken, das ist der Deal: Victor gewinnt und muss Wasser trinken, damit er nicht austrocknet bei der Wärme. Seine Winterjacke darf er anbehalten.
Umphorn nennt ihn "Opa", und zwickt ihn in nach jedem Sieg in die Wange. Victor Sammer stellt sie liebevoll als "meinen kleinen Diktator" vor. Sie sind sich nahe gekommen in diesen Jahren, der alte Herr aus der Schweiz und die junge Frau aus den thailändischen Bergen. Da er ihren Namen ständig vergisst, hat sie einen Spitznamen bekommen: Gift. Den kann sich Victor besser merken, übersetzt bedeutet er "Geschenk".
Früher hat die gelernte Pflegerin in Krankenhäusern und Pflegeheimen gearbeitet. Aber die Arbeit habe ihr dort nicht gefallen, weil sie sich um zu viele Menschen kümmern musste. Hier könne sie sich Zeit nehmen für Victor, herausfinden, was er gerne hat und was er nicht mag. Achttausend Bhat verdient sie im Monat, umgerechnet zweihundert Euro, dafür teilt sie ihr Leben mit ihm, führt in auf die Toilette, bringt ihm Essen und schläft auf einer Matratze neben seinem Bett, falls er nachts Hilfe braucht. Am Nachbartisch legt Victors Mitbewohnerin Elisabeth Mugli Patience um Patience, stundenlang. Vico Torriani singt von Paris, von Kalkutta - und die 88-Jährige driftet in ihre Vergangenheit. Sie starrt an die Wand, als wäre dort ein Fenster in eine vergangene Welt. Früher reiste sie mit ihrem Mann rund um die Welt, lebte im pakistanischen Karatschi und im indischen Cochi, wohnte in England. "Kalkutta!", flüstert sie, Sehnsucht im Blick.
Sie ging in den Tempel wie einst in die Kirche
Bisher gab es erst zwei Todesfälle in acht Jahren. Die Verstorbenen werden eingeäschert, das ist mit den Angehörigen abgesprochen. Im Frühjahr 2006 starb Woodtlis Mutter. Er ist sicher, dass es die richtige Entscheidung war, sie nach Thailand zu bringen. Ihre geografische Heimat habe sie nicht vermisst. "Sie hat ihre Erinnerungen mit nach Thailand genommen." In ihren letzten Jahren lief Margit Woodtli durch das Dorf Faham, als wäre sie im schweizerischen Münsingen. Sie besuchte den Tempel, als ginge sie in die Kirche, und auf dem Markt kaufte sie Papayas und Mangos, wie einst zu Hause Äpfel und Birnen. Am Ende hat sie ihren eigenen Sohn nicht mehr erkannt. "Das wäre in Münsingen wohl auch passiert."
Zurück bleiben die Angehörigen, für die es durchaus eine Rolle spielt, wo sie ihre Liebsten unterbringen. Liselotte Mahler steht am Bett ihres Mannes Johann und wischt ihm Speichel aus dem Mundwinkel. Der 85-jährige leidet an einer mittelschweren semantischen Demenz und Parkinson. Was um ihn herum passiert, nimmt er nicht mehr wahr, die Sprache ist ihm schon vor Jahren verloren gegangen. Die Krankheit ihres Mannes ist für sie das schlimme Ende eines langen und erfüllten Lebens. "Wir sind seit 56 Jahren verheiratet und ich vermisse ihn sehr", sagt Liselotte Mahler, die jedes Jahr zu Weihnachten für drei Monate zu Besuch kommt. Den Rest des Jahres stellt sie sich Gewissensfragen: War es die richtige Entscheidung, Johann nach Thailand zu bringen, so weit weg von der Heimat? "Für den Johann ist das hier das Beste. Für mich nicht!"
In ihrem Heimatdorf lästern die Leute. Sie hätte doch den Johann nur abgeschoben, um Ruhe zu haben, frei zu sein. Jetzt, da der Johann in Thailand sei, könne sie wieder etwas unternehmen, werfe man ihr vor. Sie spüre die Blicke, das Getuschel, wenn sie durchs Dorf geht. Und wenn sie aus Asien zurückkehrt, fragen die Leute spöttisch, wie der Urlaub gewesen sei. "Aber das sind keine Ferien, ich kann mich hier nicht erholen!" Wie lange sie die Belastung noch durchhalte, wisse sie nicht, "gesundheitlich geht es mir nicht mehr so gut", sagt die 82-jährige Dame und zeigt auf ihre Gehstöcke. Bei ihrem letzten Besuch fing sie sich Denguefieber ein. Sie streichelt die Hände ihres Mannes, zieht mit dem Zeigefinger die Adern nach und erzählt dabei von den beiden gemeinsamen Kindern, "der Barbara" und "dem Georg". Keine Reaktion.
Alle Namen wurden geändert.
Carsten Stormer, geboren 1973, ist als freier Journalist in aller Welt tätig. Heuer ist von ihm das Buch "Das Leben ist ein wildes Tier" (Lübbe Verlag) erschienen.