Demokratiebezogene Kompetenzen von Jugendlichen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
In einer Zeit wie unserer, in der wir gerade am Anfang einer "Umwertung aller Werte" (Zitat Friedrich Nietzsche) und damit eines gewissen "Wertenihilismus" (Markus Gabriel) stehen, ist es alles andere als einfach, über Ungereimtheiten in der Gesellschaft zu diskutieren. Angelehnt an die bisherigen Ergebnisse einer seit längerer Zeit laufenden Studie soll hier dennoch gezeigt werden, dass demokratiebezogene und interkulturelle Kompetenzen von Mehrheit und Minderheiten im Augenblick besonders unterschiedlich und oft widersprüchlich wahrgenommen werden - eine Situation, die am Beispiel der Debatten rund um die Schule oder die Einbürgerungen von Zuwandern gut ablesbar ist.
Zuwanderer prägen seit eh und je den österreichischen Habitus (früher "Seele" genannt). Wechseln sie ihre Staatsbürgerschaft und nehmen an politischen Wahlen teil, so prägen sie die Politik auf eine bestimmte Art und Weise. Das Wahlverhalten der Menschen und ihre sozialen Einstellungen gehen allerdings oft auseinander, und das erschwert jegliche diesbezügliche Einschätzung. Jugendliche mit Migrationshintergrund, die aus Ost- und Südeuropa sowie den Drittländern stammen, sind statistisch betrachtet nicht besonders liberal. Auch gehen sie mit Dingen, die sie an der Gesellschaft weniger mögen, seltener ähnlich wertschätzend, ja sensibel um, wie dies Jugendliche ohne Migrationshintergrund tun. Dabei handelt es sich um einen Unterschied, der beispielsweise auch in den Einstellungen und im Wahlverhalten der Bevölkerung West- und Ostdeutschlands zu finden ist. Also ein bestimmter Überhang an Werterelativismus im Westen und an identitärem Essentialismus im Osten.
Wenige Studien über das Wahlverhalten von Zuwanderern
Über das Wahlverhalten der Zuwanderer gibt es relativ wenige Studien, dafür aber zahlreiche Gerüchte. Manche sind der Ansicht, dass die Migranten eher linke Parteien bevorzugen würden; andere meinen, dass österreichische Staatsbürger mit ost- und südeuropäischen Wurzeln gar nicht so selten FPÖ-Anhänger wären. Was stimmt nun?
Aus der von Peter Filzmaier und Kollegen im Jahr 2015 durchgeführten Studie "MigrantInnen als Wählergruppe" geht jedenfalls hervor, dass 30 Prozent der wahlberechtigten Zuwanderer SPÖ und je 10 Prozent FPÖ, Grüne sowie ÖVP wählen würden. Diese Zahlen sagen über das mögliche Wahlverhalten der Menschen, die derzeit nicht in Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft sind, natürlich wenig aus. Meine These ist daher, dass die Migranten aus Ost- und Südeuropa sowie den Drittländern linksliberale Parteien - wenn überhaupt - nicht aufgrund einer politischen Gesinnung wählen, sondern weil sie sich von ihnen mehr Schutz für die eigenen Wertvorstellungen, für das Mitgebrachte, und generell mehr soziale Sicherheit erhoffen als von den anderen Parteien.
Die überwiegende Mehrheit aller in Österreich lebenden Menschen ist sicherlich prodemokratisch eingestellt. Grundrechte werden von der Mehrheit akzeptiert. Dennoch zeigt sich, dass etwa im Zuge der vergangenen Bundespräsidentenwahlen nur eine sehr knappe Mehrheit für den liberalen Kandidaten, den jetzigen Bundespräsidenten, votierte. Das liest sich eindeutig als Warnung, denn es besagt, dass es selbst in einer pluralistischen Demokratie nur eine sehr dünne Mehrheit gibt, die sich für einen liberalen und gegen einen illiberalen politischen Kandidaten entscheiden kann oder will.
1,5 Millionen Zuwanderer sind nicht im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft, und weil sie nicht wählen dürfen, beeinträchtigen sie signifikant "die demokratische Qualität dieses Landes", wie im Artikel "Unsere neue Gastbevölkerung" von Max Haller argumentiert wurde ("Wiener Zeitung" vom 31. Mai). Folgerichtig stellt sich die Frage, ob deren Wahlberechtigung die österreichische Demokratie etwa dahingehend stärken würde, dass bei den kommenden Bundespräsidentenwahlen der liberale Kandidat nicht - wie vor vier Jahren - nur knapp, sondern mit deutlichem Vorsprung gewinnen würde?
Niemand kann das vorhersehen. Ich wäre eher skeptisch, und dies trotz der Tatsache, dass die Mehrheit der Bevölkerung (gleich welcher Herkunft) grundsätzlich prodemokratisch eingestellt ist. Wie immer eine solche Wahl ausginge - den Zugang zum Staatsbürgerschaftserwerb etwas zu modifizieren und zu erleichtern, würde in jedem Fall Sinn machen. Man muss gar nicht an die neuesten Tendenzen rund um die Pandemie denken (an die Verschwörungstheorien und die Impfgegner), um vor Augen geführt zu bekommen, dass unter dem Begriff "Demokratie" bei weitem nicht in allen Segmenten der Gesellschaft Ähnliches verstanden wird.
Demokratie- und Toleranzcheck in einer Brennpunktschule
Allein am Beispiel der sogenannten Brennpunktschulen ließen sich zahlreiche Unterschiede in der Wahrnehmung der Welt und der Gesellschaft festmachen. Im Rahmen einer Pilotstudie zu einem laufenden Projekt wurde kürzlich eine Brennpunktschule hinsichtlich der Einstellungen der Schülerinnen und Schüler sowie einer Lehrerin untersucht (die Ergebnisse sind unter https://bit.ly/3GyMf50 frei zugänglich). Rund die Hälfte der 42 befragten Jugendlichen wurde im Ausland geboren. Die überwiegende Mehrheit hat Migrationshintergrund. Die meisten kommen außerdem aus sehr bescheidenen Verhältnissen.
Die statistische Erhebung der untersuchten Kinder ergibt folgendes Bild: Das Ausmaß der Offenheit und Toleranz der befragten Lehrerin ist - das zeigen die Fragebogenerhebung und das Interview - erwartungsgemäß erheblich größer und liberaler als das der Jugendlichen. Die Jugendlichen sind in ihren Einstellungen den gemessenen Grundwerten gegenüber mehrheitlich ebenfalls offen, es akzeptieren die meisten (81,5 Prozent) die abgefragten Grundwerte. Das Ausmaß der Vorurteile ist im Vergleich zu jenen der Lehrerin zwar bedeutend höher, aber verglichen mit anderen von uns untersuchen Schultypen ist der Unterschied unwesentlich. Zusätzlich ist erwähnenswert, dass es in dieser Brennpunktschule praktisch keine Gewalt gibt.
Für mehr als der Hälfte der Kinder in dieser Schule ist die eigene ethnische Identität sehr wichtig. Das, so die interviewte Lehrerin, habe sich zum Negativen entwickelt: Während früher die religiöse Identität ausreichend gewesen sei, müsse heute auch die ethnische gegeben sein. Sie stehen oft im Vordergrund, und so gehen schulische Pädagogik und elterliche Erziehung oft kontroverse Wege. Die Kinder stehen dazwischen und sind womöglich frustriert. Solche Situationen verlangen nach Lösung, aber einfache Rezepte gibt es dazu nicht. Es braucht einiges: Erstens müssen die Wertvorstellungen der Jugendlichen, ihrer Eltern und der Lehrkräfte ausgiebig und vergleichend untersucht werden. Erst danach lässt sich sagen, woran es tatsächlich mangelt. Zweitens muss man sich überlegen, wie man die Kinder und vor allem ihre Eltern für die Gesellschaft, in der sie leben, nachhaltig begeistern kann.
Summa summarum empfiehlt es sich, so schnell wie möglich - noch bevor der Hut brennt - genau darauf zu schauen, wie es um das Demokratieverständnis, die Toleranz und die Offenheit der Bevölkerung steht. Die Skalen zu den genannten Merkmalen zeigen, dass bei 20 bis 30 Prozent der Befragten mäßige, bei 5 Prozent besorgniserregende Intoleranz und starke Vorurteile (etwa rassistische und fundamentalistische) zu finden sind. Jedenfalls zeigen das unsere Daten in Bezug auf die Jugendlichen. Die Empfehlung lautet daher: Es braucht "Investment" in diesen äußerst heterogenen und komplexen, weit über die Migration hinausgehenden Gesellschaftsausschnitten - deutlich mehr als bisher. Kulturell und ökonomisch.