Wahrhaft bewegende Momente sind in der Europäischen Union eher selten. Am Samstag war eine solche Stunde gekommen: Als erstmals nach dem Ende des Kalten Krieges die Fahnen der alten und neuen Mitglieder der Europäischen Union gemeinsam gehisst wurden, kämpfte der polnische Staatspräsident Aleksander Kwasniewski mit den Tränen. Der ungarische Ministerpräsident Peter Medgyessy war über die Maßen gerührt, und auch Luxemburgs Regierungschef Jean-Claude Juncker standen die Emotionen ins Gesicht geschrieben. Am Ende der Zeremonie zur EU-Erweiterung lagen sich die Staats- und Regierungschefs der nun 25 Mitgliedstaaten in den Armen.
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Mit dem Beitritt der zehn neuen Staaten aus Mittel-, Ost- und Südeuropa wurde 15 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Teilung Europas endgültig überwunden. "An diesem geschichtsträchtigen Tag für die Völker Europas entbieten wir den zehn Mitgliedstaaten, die dem Familienkreis der Europäischen Union beitreten, ein herzliches Willkommen", begrüßte die irische Präsidentin Mary McAleese die Neuen im Garten ihrer Residenz vor den Toren Dublins. "Jeder Mitgliedstaat bringt den einzigartigen Genius und das Erbe seines Volkes in die Union ein; 25 faszinierende Gesichter der reichen europäischen Geschichte, 450 Millionen Menschen legen ihr Vertrauen in die Hand der anderen."
Der Beitritt von Ungarn, Tschechien, Polen, Slowenien, der Slowakei, Lettland, Litauen, Estland, Malta und Zypern trat am 1. Mai in Kraft. Schon am Abend zuvor hatte Dublin das Ereignis mit einem Feuerwerk gefeiert. Am Samstagnachmittag wurden unter den Klängen der Europahymne, Ludwig van Beethovens "Ode an die Freude", feierlich die Fahnen aller nun 25 EU-Staaten gehisst. Der Philharmonische Chor des irischen Rundfunks RTE intonierte die Hymne auf Deutsch. "Alle Menschen werden Brüder" schien für einen Augenblick in Europa Wirklichkeit zu werden.
Regierungschef Bertie Ahern unterstrich die historische Bedeutung der Erweiterung. "Unsere Europäische Union ist wahrhaft einzigartig." Niemals zuvor sei ein solches Experiment durchgeführt worden. "Die heutige Erweiterung ist das beste Zeugnis für den Erfolg der Europäischen Union", sagte er. Die irische Ratspräsidentschaft tat ihr Bestes, um die tiefe Bedeutung des Tages zu untermalen. Präsidentin McAleese und Ministerpräsident Ahern zeigten mit ihren teils in Gälisch gehaltenen Ansprachen, dass die Zugehörigkeit zu Europa nicht Einförmigkeit bedeuten muss.
Der irische Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger Seamus Heaney hatte eigens ein Gedicht verfasst, das er vor den Staats- und Regierungschefs verlas. Darin sprach er von der "Heimkehr" der neuen Mitglieder nach Europa. Das Gedicht "Leuchtfeuer am 1. Mai" nimmt Bezug auf den keltischen Kalender, nach dem an diesem Tag ein Lichterfest gefeiert wurde. Der Überlieferung zufolge seien die ersten Einwohner Irlands am Maifeiertag auf der Insel angekommen, erläuterte Heaney seine Verse. Ausgerechnet an diesem Tag scharten sich die alten europäischen Nationen erneut zusammen. Und dies geschehe darüber hinaus in einem Park, der nach dem mythischen Vogel Phönix benannt sei - dem Vogel, der die Möglichkeit stetiger Erneuerung verkörpere.
Erneuerung und Zukunft - dies waren die Begriffe, die die Feierlichkeiten dominierten. Als Symbol für die Zukunft überreichten 25 Kinder aus den EU-Staaten den Staats- und Regierungschefs ihre Flaggen. Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder erhielt die deutsche Fahne vom zwölfjährigen Laszlo Sztana, dessen Vater Ungar und dessen Mutter Deutsche ist. Laszlo ist ein Beispiel für grenzüberschreitende Biografien auf dem alten Kontinent. Er lebte zuvor in Deutschland und Belgien, nun besucht er in Irland eine französische Schule. Er spricht Deutsch, Ungarisch, Englisch und Französisch. Unter ähnlich multikulturellen Bedingungen sind fast alle Kinder aufgewachsen, die die Flaggen überreichten.