Europa fordert fairen Umgang mit Ex-Premierministerin Timoschenko. | Deutschlands Präsident Gauck boykottiert Treffen mit Amtskollegen.
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Kiew. In Watte gepackte Worte zählen zum diplomatischen Alltag. Sagt ein Staatsoberhaupt eine Reise aufgrund der politischen Lage im Gastland ab, signalisiert er das sprichwörtliche "Feuer am Dach". Einen solchen Brand hat Deutschlands Präsident Joachim Gauck Mittwochabend entfacht. Er weigert sich, seinen ukrainischen Amtskollegen Viktor Janukowitsch zu sehen und sagte daher seine Reise zu einem Treffen mit zentraleuropäischen Staatschefs Mitte Mai in Jalta ab. Gauck protestiert damit gegen die Haftbedingungen der ukrainischen Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko. Die 51-Jährige leidet an einem Bandscheibenvorfall und ist nach angeblichen Misshandlungen in Hungerstreik getreten.
Bereits am Donnerstag griff die Kontroverse auf die Europäische Union über: "Zutiefst besorgt" zeigte sich EU-Außenpolitikbeauftragte Catherine Ashton über den Zustand der inhaftierten Ex-Ministerpräsidentin. Die Ukraine habe die Verpflichtung, unverzüglich und unparteiisch jeder Klage über Folter oder andere Formen grausamer Behandlung nachzugehen. Auch der Generalsekretär des Europarates, Thorbjörn Jagland, hat das osteuropäische Land aufgefordert, die Misshandlungsvorwürfe zu untersuchen, Österreichs Außenminister Michael Spindelegger verfolgt die Situation "mit großer Sorge". EU-Justiz-Kommissarin Viviane Reding hat ihren Besuch beim ersten Spiel der Fußball-EM in der Ukraine bereits abgesagt.
Der ukrainische Präsident Janukowitsch versucht indes zu kalmieren und hat Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft zu den Vorwürfen angeordnet.
Trotz dieser Bemühungen droht die Ukraine zum neuen Paria der europäischen Politik zu werden - und das nur sechs Wochen vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft im eigenen Land sowie in Polen. Als Druckmittel steht der EU das Assoziationsabkommen mit der Ukraine zur Verfügung. Es sieht weitgehenden Verzicht auf Zölle und bürokratische Erleichterungen im Handel zwischen beiden Seiten vor und wurde Ende März lediglich parafiert. Timoschenkos Freilassung könnte Gegenleistung für eine rasche Unterzeichnung sein.
"Nicht umbringen"
Kaum rettbar ist aber das negative Image von Präsident Janukowitsch. Seit Jahren pflegen er und Timoschenko eine innige Feindschaft. Diese gipfelte in einer siebenjährigen Haftstrafe wegen Amtsmissbrauchs für die Politikerin mit dem markanten Haarkranz. Angeblich soll ein Gasdeal der Ukraine mit Russland während ihrer Zeit als Ministerpräsidentin 2009 zu Millionenschäden geführt haben. Kritiker werfen Janukowitsch Rachejustiz und die Verantwortung für das im Oktober 2011 gefällte Urteil vor. Vergangene Woche begann ein weiterer Prozess. Beide gelten als Revanche für die von Timoschenko mitangeführte "Orange Revolution" im Jahr 2004; Janukowitsch wurde damals als Wahlfälscher entlarvt.
Timoschenko wirft der Strafvollzugsbehörde in Charkow vor, sie unter Gewaltanwendung vorübergehend aus dem Gefängnis in ein Krankenhaus verlegt zu haben. "Sie hat Angst. Sie lässt sich noch nicht einmal Blut abnehmen", sagt ein deutscher Arzt, der Timoschenko untersucht hatte. Drastische Worte fanden auch Oppositionspolitiker am Mittwoch im Kiewer Parlament: "Janukowitsch, bring Julia nicht um", war auf einem Transparent zu lesen. Aufgrund des Bandscheibenvorfalls haben die Berliner Mediziner die Politikerin für verhandlungsunfähig erklärt. Eine Überstellung zur Behandlung nach Deutschland ist im Gespräch.
Dort wird Präsident Gauck für seine Haltung gefeiert: "Standhaftigkeit und Konsequenz im Handeln" attestiert ihm die "Süddeutsche Zeitung". Mut, den Merkel zuweilen vermissen lasse, etwa, als sie den kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew kürzlich in Berlin empfing.
Einen Boykott der Europameisterschaft lehnen der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes und die deutsche Regierung jedoch ab: Sport stehe für das "Völkerverbindende und den fairen Wettbewerb der Jugend".