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"Bibi, geh nach Hause!"

Von Michael Schmölzer und Ines Scholz

Politik

In Israel will die neu gegründete Zionistische Union die Ära Netanjahu beenden.


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Wien. Kommende Woche wählt Israel ein neues Parlament und der Ausgang des Votums ist völlig offen. Faktum ist, dass die Gegner des rechtsnationalen Premiers Benjamin Netanjahu immer lauter werden: Am Wochenende versammelten sich zehntausende Israelis auf dem Rabinplatz in Tel Aviv, um gegen die von Netanjahu angeführte Likud-Regierung zu demonstrieren. Den Unzufriedenen stößt nicht nur die Unnachgiebigkeit des Premiers in der Palästinenser-Frage sauer auf. Sie werfen dem seit 2009 amtierenden Regierungschef vor, durch den mittlerweile offen ausgetragenen Konflikt mit den USA den wichtigsten Verbündeten zu vergrault und damit die Sicherheit des jüdischen Staates aufs Spiel gesetzt zu haben. Dazu wird Netanjahu - er ist auch wirtschaftspolitisch ein "Falke", also ein bekennender Neoliberaler - eine verfehlte Sozialpolitik vorgeworfen.

In der Tat ist der Wohlstand in Israel in den letzten Jahren messbar zurückgegangen, vor allem ist die Lage am Wohnungsmarkt trostlos. Dazu kommt, dass Netanjahus Koalition zuletzt an inneren Widersprüchen zerbrochen ist und vorzeitige Wahlen ausgerufen werden mussten.

Sendungsbewusstsein

Der Widerstand gegen Netanjahu, dessen messianisches Sendungsbewusstsein in den Augen vieler eine Aussöhnung mit den Palästinensern unmöglich macht, beschränkt sich längst nicht mehr auf linke Kreise. Einer der Hauptredner bei den Protesten am Samstag war Meir Dagan, ein Haudegen, der in verschiedenen arabisch-israelischen Kriegen gekämpft hat und bis 2011 Chef des mächtigen Auslandsgeheimdienstes Mossad war. Dagan geriet in Widerspruch zu Netanjahu, weil er strikt dagegen war, das iranische Atomprogramm militärisch anzugreifen. "Israel hat Feinde, aber ich fürchte sie nicht. Was mir Angst macht, ist die derzeitige Führung des Landes", rief Dagan am Samstag in die jubelnde Menge. In den sechs vergangenen Jahren sei "jegliche Perspektive für eine Friedensvereinbarung verloren gegangen". Die Menge skandierte: "Bibi, geh nach Hause!"

Eine bewegende Rede hielt Michal Kesten-Keidar, Witwe eines Oberstleutnants, der im Gaza-Krieg im vergangenen Sommer starb. Sie bedauerte, dass im Wahlkampf "dieses Blutvergießen kein Thema" ist. "Aber ich verlor dort die Liebe meines Lebens. Und deshalb bin ich hier, um Euch zu bitten, zu den Wahlurnen zu gehen und Eure Stimme denjenigen zu geben, die den nächsten Krieg verhindern." Es sei falsch, sich damit herauszureden, auf der anderen Seite gebe es keinen Partner für den Frieden, kritisierte Kesten-Keidar. "Das akzeptiere ich nicht. Dann sucht einen neuen Ansatz, neue Gesprächspartner."

Netanjahu hingegen hat immer wieder klar erkennen lassen, dass er Gespräche - vor allem aber Kompromisse - mit den Palästinensern für extrem gefährlich hält. Im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" meinte er 2006, damals noch Oppositionsführer, dass es den Palästinensern letztendlich nur um die Eroberung von Tel Aviv gehe.

Immobilien-Misere

Laut letzten Umfragen liefert sich Likud ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem Listenbündnis Zionistische Union, das die gemäßigt linke Arbeitspartei von Yitzhak Herzog und die liberale Hatnua der ehemaligen Außenministerin Tsipi Livni eingegangen sind. Die Zionistische Union fordert erstens, dass die Vertrauensbasis zu den USA wiederhergestellt werden müsse. Innenpolitisch soll der Etat für Soziales, Bildung und Gesundheit erhöht, ein Wohnungsrat zur Eindämmung der explodierenden Mieten geschaffen, die Lebenshaltungskosten sollen allgemein gesenkt werden. Sollte die Zionistische Union Erfolg haben und nach der Wahl ein mehrheitsfähiges Bündnis schmieden können, dann wird wohl Herzog neuer Premier werden.

Was viele Israelis wirklich verbittert, ist die Lage am Wohnungsmarkt. Die Preise sind laut dem Leiter des Rechnungshofes, Joseph Shapira, zwischen 2008 und 2013 um 55 Prozent gestiegen, die Mietpreise erhöhten sich in dem Zeitraum um 30 Prozent. Schon im Sommer 2011 gingen zehntausende Israelis aus Protest auf die Straßen. Denn die Kluft zwischen Arm und Reich ist nachweislich eine der größten in den OECD-Ländern, vor allem die junge Mittelschicht kann sich das Wohnen kaum noch leisten. 4800 Schekel (1100 Euro) für 74 Quadratmeter im billigsten Stadtteil von Tel Aviv sind ganz normal. Im Schnitt kostet eine Eigentumswohnung 148 Brutto-Monatsgehälter. In Israel ist das Land knapp, und wenig wird neu gebaut. Die Zinssätze sind niedrig, Geburtenrate und Einwanderung aber hoch. Eine Eigentumswohnung bleibt für die meisten auch dann ein Traum, wenn beide Partner berufstätig sind. Jetzt ist für viele Israels das Maß voll, eine Woche vor den Wahlen sind wieder Protest-Zelte auf dem zentralen Rothschild-Boulevard in Tel Aviv zu sehen.

"Kein Palästinenserstaat"

Unmut herrscht auch in der Palästinenser-Frage. Eine Woche vor der Wahl wurde nun auch der ungelöste Konflikt zum großen Wahlkampfthema. Ausgelöst hatte die Debatte Netanjahus Likud-Partei, die sich bei konservativen Hardlinern und jüdischen Siedlern offenbar zusätzliche Wählerstimmen erhofft hat. In den Synagogen des Landes ließ sie eine Broschüre verteilen, in der Netanjahu der - bisher auch von ihm selbst vertretenen - Idee eines Palästinenserstaates faktisch eine Absage erteilt. "Im Nahen Osten ist die Lage so, dass jedes (von Israel) aufgegebene Gebiet von Kräften des radikalen Islam und terroristischen, vom Iran unterstützten Organisationen übernommen würde." Deshalb werde es keinen israelischen Rückzug aus dem Westjordanland und keine Zugeständnisse an die Palästinenser geben. "Dieses Thema ist schlicht irrelevant", heißt es in dem von israelischen Medien zitierten Parteischreiben.

Die Opposition reagierte empört. Sie warf Netanjahu vor, eine der wichtigsten Zukunftsfragen Israels parteipolitischem Wahlkalkül zu opfern und das ohnehin angeknackste Verhältnis zu den USA weiter zu verschlechtern. Auch wenn die Friedensinitiative von US-Außenminister John Kerry im Vorjahr kläglich gescheitert ist, zählt für Barack Obama ein lebensfähiger Palästinenserstaat auf Basis eines israelisch-palästinensischen Friedensvertrages immer noch zu seinen außenpolitischen Zielen. Gleich zu Amtsantritt hatte sich Netanjahu deshalb nolens volens zur Zwei-Staaten-Lösung bekannt und dies bisher offiziell auch nicht widerrufen.

Am Montag sah sich Netanjahu angesichts der Protestwelle gezwungen, zurückzurudern. Dass er die Zwei-Staaten-Lösung für null und nichtig erklärt habe, stimme nicht, ließ er über seinen Sprecher ausrichten. Bloß sei die Zeit jetzt nicht reif für territoriale Zugeständnisse an die Palästinenser. "Der Premier erklärt seit Jahren, dass unter den heutigen Bedingungen im Nahen Osten extremistische, islamistische Elemente jedes Stück Land besetzen würden, das wir räumen", präzisierte der Sprecher weiter. Auch eine Likud-Sprecherin stellte klar: Die in der Broschüre im Namen der Partei erfolgte Aussage sei die persönliche Ansicht der Vizeministerin Zipi Chotoveli. Die Abgeordnete vom rechten Likud-Flügel wirbt immer wieder für eine vollständige Annexion des Westjordanlands.

Zwar warnt die Zionistische Union im Wahlkampf davor, dass eine Neuauflage der bestehenden Regierung ein sicherheitspolitisches Risiko für den jüdischen Staat darstellen würde, da Israel stark von US-Waffenlieferungen und der Militärkooperation abhängig ist. Doch in der Palästinenserfrage unterscheiden sich die Positionen nicht maßgeblich. Im Wahlprogramm wirbt man auch hier mit einem Minimalkonsens: entmilitarisierter Palästinenserstaat bei Erhalt der großen jüdischen Siedlungsgebiete unter israelischer Kontrolle und Jerusalem als "ewige Hauptstadt".

Gefährliche Funkstille

Friedensverhandlungen mit den Palästinensern auf Augenhöhe wären auch vom Mitte-Links-Bündnis nicht zu erwarten, warnen viele politische Beobachter in Israel. Skeptisch hinsichtlich der Zukunft des Friedensprozesses ist auch die Palästinenserführung in Ramallah.

Erst vergangene Woche hatte das oberste Gremium der PLO (Palästinensische Befreiungsorgansition) in einer für die Autonomiebehörde potenziell weitreichenden Entscheidung beschlossen, die Kooperation mit Israel in den besetzten Palästinensergebieten "auf allen Ebenen zu stoppen". Präsident Mahmoud Abbas hatte einen solchen Schritt empfohlen - ob er ihn umsetzt, bleibt abzuwarten. Dies hängt wohl auch von der Politik der künftigen Regierung in Israel ab.