Über den Wahlkampf und die Beziehung der Niederländer zur EU.
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"Wiener Zeitung": Die Krise in Europa ist in den Niederlanden eines der wichtigsten Wahlkampfthemen. Was fällt Ihnen an den Debatten auf?Schout: Alle haben erwartetet, dass der Wahlkampf euroskeptisch wird, aber das ist nicht eingetreten. Wenn ich mir die Debatten anschaue, bemerke ich, dass die Parteien sehr wohl die Europäische Integration vorantreiben wollen und dass auch die weitergehende Europäische Integration auf der Agenda steht. Die PVV profiliert sich als einzige als Anti-Europa-Partei, die aus der EU und dem Euro austreten will. Die SP spricht sich in mehrerer Hinsicht für die Europäische Integration aus, aber dann eher in einer linken Form, wobei die Europäische Zentralbank (EZB) eine große Rolle spielt, um zu verhindern, dass Haushaltskürzungen die sozial Schwächeren direkt treffen.
Die SP ist also keine anti-europäische Partei, sie hat nur ihre eigene Sichtweise und neigt darin mehr in Richtung des französischen Präsidenten Hollande anstatt zur Bundeslanzlerin Merkel. Die Partei will kein neoliberales Europa. Auch die PvdA ist ausgesprochen für Europa, sie verlangt allerdings etwas mehr Zeit, um das Haushaltsdefizit unter drei Prozent zu bringen. Nicht absurd viel Zeit sondern ein Jahr. Die VVD will achtgeben, dass nicht zu viele Kompetenzen an Brüssel abgegeben werden, ist aber durchaus für eine Anzahl Maßnahmen zur weiteren Europäischen Integration wie zum Beispiel die Bankenunion und Haushaltsregeln. Die Palette ist nicht euroskeptisch.
Was denken die Niederländer selbst über Europa?
Die Hälfte der Bevölkerung findet die Euro-Krise eines der wichtigsten Themen und macht sich große Sorgen über die Zukunft. Es zeigt sich, dass das Vertrauen in Europäische Institutionen in allen Ländern, die Niederlande inbegriffen, sinkt. Aber auch das Vertrauen in die nationalen Regierungen sinkt. Allgemein kann man deshalb nur schwierig sagen, dass sich die Bürger von Europa abwenden, denn schließlich haben sie auch in die eigene Regierung weniger Vertrauen.
Die Niederländer wollen vor allem, dass die Krise bewältigt wird. Mir fällt auch auf, dass die Bürger noch mehr Klarheit erwarten als ihnen derzeit in den Wahlkampfdebatten geboten wird. So hat beispielsweise eine Diskussion über weitergehende Integration begonnen, ich bemerke allerdings, dass die Menschen nicht verstehen, worum es in der Debatte eigentlich genau geht. Offenbar haben Politiker Mühe das zu erklären.
Warum fällt es den Politikern so schwer, dem Bürger die Krise zu erklären?<br style="font-style: italic;" /> Die Parteien gehen von dem Standpunkt aus, dass die Europäische Integration unvermeidlich ist, aber sie begreifen selber nicht, was das genau bedeutet. Die Politiker, Parteien und Parlamentsmitglieder sprechen über weitere Integration, scheinen aber nicht wirklich verstanden zu haben, wo die Probleme in Europa wirklich liegen. Das kommt auch daher, dass sie darüber nicht ausreichend gesprochen haben. Darum können sie es nicht erklären. Wir sehen an diesen Diskussionen über Europa, dass die Parteien selbst noch nicht für Europa bereit sind. Die Debatte ist nicht schwarzweiß, sie ist nicht antieuropäisch, es fehlt ihr aber an Tiefgang. Betrachtet man zum Beispiel die Diskussion über eine mögliche Ausbreitung der Macht des Europäischen Parlaments, die Benennung eines Europäischen Finanzministers oder die EU als Transferunion: Die Diskussionen bleiben leider nur an der Oberfläche, während diese Themen genau jetzt relevant sind.
Gleichzeitig haben die Niederländer das Gefühl, dass sie für die Fehler von anderen bezahlen müssen.
Das stimmt. Das Parlament, die Parteien zahlen wie selbstverständlich hunderte Milliarden Euro an den Europäischen Sozialfonds (ESF) oder den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Die Zahlungen werden vom Parlament genehmigt, offenbar gibt es also Verständnis dafür. Nur fragt sich der Bürger, ob das wirklich gute Maßnahmen sind. Der Zweifel bleibt. Dennoch versteht die Niederländer, dass die Zahlungen notwendig sind. Die Niederlande sind ein kleines Land und brauchen den Europäischen Binnenmarkt. Es bricht also keine Revolution aus, wenn das Parlament in die Zahlungen einwilligt, die Parteien verteidigen die Maßnahmen auch in ihren Kampagnen. Nur das Bild von Europa als bodenloses Fass bleibt bestehen, weil nicht klar ist, ob sich die Länder auch wirklich anpassen und ob nicht doch immer mehr Geld an die Problemländer gezahlt werden muss. Die Politiker wissen nicht oder sie wollen nicht erklären, was der zu erwartende Kurs für die weitergehende Integration ist. Die EU bleibt wahrscheinlich eine Transferunion aber die Finanzhilfe wird als Einzelfall präsentiert.
Sind mit dem neuen Kabinett Veränderungen in der niederländischen Europapolitik zu erwarten?
Ich erwarte für die Niederlande keine große Kursveränderung. Europa verfolgt eine zweiseitige Strategie: Die nördlichen Länder wollen mehr Regeln aufstellen und mehr Aufsicht.
Die südlichen Länder wollen, dass mehr Raum geschaffen wird, um die Sparmaßnahmen durchzuführen. Diese Pläne sind ganz sicher vereinbar und auch beide nötig, um die Krise zu bekämpfen. Bei der Europäischen Integration wurden in den letzten zwei Jahren auch immer beide Seiten berücksichtigt. Das ist die zweiseitige Politik, die man in Europa sehen kann, und diese ist nicht abhängig von den Niederlanden. Natürlich wird in den Niederlanden diskutiert, ob der Kurs etwas mehr nach links oder rechts verschoben werden müsse, aber eine große Kursveränderung erwarte ich nicht. Mit einem Wahlergebnis, in dem die linken Parteien stärker sind, ändert sich die Sicht auf die Haushaltskürzungen, aber das wird nicht mehr als eine Nuance ausmachen.
Geert Wilders sagt, dass er sofort aus der EU austreten würde, sollte er die Wahl gewinnen.
Im Augenblick glaube ich nicht, dass die PVV es schafft, größte Partei zu werden oder dass sie an einer Regierung beteiligt wird. Aber auch wenn dieses Ereignis eintreten würde, dann frage ich mich, ob Wilders und die PVV tatsächlich sofort nach Brüssel gehen und sagen würden, dass sie Schritte unternehmen wollen, aus dem Euro und der EU auszutreten. Ich habe darum die PVV in der Vergangenheit auch "Salon-Antieuropäer" genannt. Sie haben schon des öfteren diesen Ton hören lassen, aber dennoch haben sie das Kabinett Rutte geduldet. Wenn man danach schaut, was das Kabinett zustande gebracht hat: den EU-Sonderkommissar, die Wirtschaftsaufsicht, Unterstützung der Notfonds. Wilders hätte das Kabinett schon früher fallen lassen können, aber das hat er nicht getan. Ich denke, dass die Angst vor den tatsächlichen Folgen im Augenblick viel zu groß sind, auch bei der PVV.
Ein weitere Grund um nicht auszutreten, sind die enormen Schulden, die die EZB mit günstigen Krediten für Banken und den Verrechnungsschulden innerhalb der Eurozone auf sich genommen hat. Jedes Land, das jetzt den Euro verlassen würde, müsste seinen Teil der Schulden ablösen. Ein Austritt würde die Niederlande eine zweistellige Milliardensumme kosten. Außerdem würden die Unternehmen in den Niederlanden heftig protestieren. Ich denke deswegen, dass diese Frage sehr hypothetisch bleibt.
Zur Person: Adriaan Schout ist Ökonom und Politkwissenschafter und leitet das Programm European Studies am niederländischen Clingendael-Institut für internationale Beziehungen. Zudem ist er unabhängiger Experte auf dem Gebiet European Governance.