Der Expressionist Ernst Ludwig Kirchner pflegte seine Leinwände beidseitig zu bemalen. Eine Ausstellung in Mannheim zeigt zurzeit erstmals die Bilder so, dass die Betrachter Vorder- und Rückseite sehen können.
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Im malerischen Werk des Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner findet sich ein Phänomen, das in dieser ausgeprägten Form bei keinem anderen Künstler der Klassischen Moderne anzutreffen ist: die Rückseitenbilder als eigene Werkkategorie. Kirchner löste eine Vielzahl seiner bereits fertiggestellten Gemälde aus ihren Rahmen, drehte sie um und bemalte die Leinwand erneut. Diese Doppelbilder, von denen derzeit 138 Stück bekannt sind, nehmen im Werk des Malers eine besondere Stellung ein. Ein in Kooperation zwischen dem Kirchner Museum in Davos, dem Ernst Ludwig Kirchner Archiv in Wichtrach/Bern und der Kunsthalle Mannheim erarbeitetes Ausstellungsprojekt widmet sich zurzeit erstmalig diesen Rückseitenbildern im uvre des Künstlers.
Wie sind diese Werke zu behandeln? Welche der beiden Seiten ein und derselben Leinwand ist die wichtigere, gültige, titelgebende? Wer hat das Recht, dies zu entscheiden? Unter dem Stichwort "Werkintegrität" beschäftigen sich im Rahmen der Schau und in den Aufsätzen des umfangreichen Begleitbuches Experten mit diesen Fragen. Kirchner selbst hat als Hauptseite meist die später bemalte festgelegt. In institutionellen und privaten Sammlungen hingegen wurden nach seinem Tod viele Werke gewendet und zeigen nun als Hauptseite Gemälde aus den frühen Dresdner und Berliner Jahren, die heute als kunsthistorisch wertvoller gelten und damit auf dem Kunstmarkt höhere Preise erzielen.
Beide Seiten im Blick
Die derzeit in der Kunsthalle Mannheim gezeigte Ausstellung, die danach im Kirchner Museum in Davos zu sehen sein wird, hält sich in der Wertung zurück, ordnet die Werke chronologisch und folgt dabei der Festlegung des Künstlers, was als Vorderseite anzusehen ist. Sie präsentiert die Gemälde doppelseitig in speziell dafür angefertigten, frei stehenden Rahmenkonstruktionen, die dem Betrachter ein Umrunden der Bilder und damit die Ansicht beider Seiten ermöglichen. Um die Rückseiten als gleichwertigen Bestandteil in Kirchners Schaffen zu würdigen, wurden nach der Hälfte der Laufzeit in der Schau insgesamt sieben nicht-formatkonforme Exponate gewendet.
Im Kirchner-Archiv sind 138 doppelt bemalte Werke verzeichnet, und diese hohe Quantität ist einzigartig und folgenschwer. Es gibt einige Gründe dafür, dass der Maler so viele seiner Leinwände doppelseitig bemalte. So schrieb er in einem Brief im Februar 1919: "Auch ich muss etwas sparen jetzt, und das Material ist sehr kostspielig geworden. Aber die Leinwand hat Gott sei Dank 2 Seiten." Und sicherlich war es für Kirchner nach 1917, als er nach Davos übersiedelt war, nicht ganz einfach, an Material heranzukommen, sodass er auf bereits bemalte Leinwände zurückgriff und diese einfach umdrehte. Inge Herold, die auf Seiten der Mannheimer Kunsthalle für die Schau verantwortlich zeichnet, meint jedoch, "dieser pragmatische Aspekt darf nicht überbewertet werden. Denn Kirchner war auch ein Künstler, der die Wahrnehmung seines Werkes sehr bewusst steuerte. Er verwarf die Rückseiten ja nicht in allen Fällen, sondern ließ sie größtenteils als Beleg für seine Werkentwicklung für die Nachwelt stehen. Dies wird besonders deutlich, wenn es sich um ein ähnliches Motiv auf Vorder- und Rückseite handelt, wie etwa einerseits einen expressiven Akt aus dem Frühwerk und andererseits einen flächig abstrahierten Akt aus den 1920er Jahren."
Angesichts der 17 in der Schau gezeigten, doppelseitig bemalten Leinwände kann so manch interessante und spannende Geschichte erzählt werden. So etwa zum Gemälde "Gelbes Engelufer, Berlin" (1913) aus der Sammlung der Kunsthalle Mannheim, das den eigentlichen Anlass zum Ausstellungsprojekt lieferte. Bei der Restaurierung der doppelseitig bemalten Leinwand im Jahr 2010 entdeckte man die in Vergessenheit geratene Rückseite mit einem "Marokkaner" (1909/1910) wieder, den der Künstler wohl unter dem Eindruck der im Dresdner Zoologischen Garten veranstalteten und von ihm mit Vorliebe besuchten "Völkerschauen" malte. Seit seiner Restaurierung kann das Werk nun doppelseitig betrachtet werden.
Eine andere Geschichte haben die aus dem Museum Frieder Burda in Baden-Baden stammenden "Zwei Akte mit Badetub und Ofen" (1911). Auf der heutigen Rückseite des Bildes ist die Stadtansicht "Pfortensteg Chemnitz" (1912/13) zu sehen. Der Verfasser von Kirchners Werkverzeichnis, Donald E. Gordon, kannte das Stadtbild nur von einem Foto aus einem der Alben des Künstlers und führte die beiden Darstellungen in seinem Verzeichnis 1968 noch als zwei getrennte Werke auf. Nachforschungen ergaben, dass Kirchner einst die Chemnitzer Ansicht als Vorderseite bestimmt hatte, das Bild in den 1950er Jahren auch als Stadtbild in den Kunsthandel ging, aber dann irgendwann umgedreht wurde und als "Zwei Akte" schließlich vom Sammler Franz Burda erworben wurde. Heute hängen die Nackten als Vorderseite im Baden-Badener Museum.
Das "gültige" Bild
Während sich die Besucher der Ausstellung an den Vor- und Rückseitengemälden gleichermaßen erfreuen können, schwelt in der Fachwelt, wie im Katalog ausführlich dokumentiert, der Streit darüber, wer die Deutungshoheit darüber besitzt, welches das bessere oder gültige Bild ist. Der Künstler selbst? Oder die Kunsthistoriker? Die Macher der Mannheimer/Davoser Schau billigen dieses Recht eher dem Künstler zu. Aber Kirchner, dieser Filou, machte es der Wissenschaft nicht einfach. War er doch ein Meister der Verschleierung und Legendenbildung. So wechselte der Maler, dem aktuelle Werkphasen stets wichtiger als zurückliegende waren, bei nicht wenigen Gemälden mehrfach die Ansicht darüber, welches Bild auf einer Leinwand jetzt die wichtige Vorder- oder die Rückseite darstellt. Auch liebte er es, mit der Datierung seiner Werke zu tricksen und diese vor- oder zurückzudatieren. Und schließlich war Kirchner, der an manchem Werk auch nach Jahren noch Änderungen vornahm, ein Meister darin, die Interpretation seiner Malerei selbst zu steuern, indem er unter Pseudonym Kunstkritiken und Aufsätze über sich und seine Arbeit verfasste.
So setzten und setzen sich auch Sammler oder Museen immer wieder über Kirchners Wahl hinweg: beispielsweise im Fall des Gemäldes "Dodo am Tisch" (1909), das sich Kirchner in den 1920er Jahren erneut vornahm, um die leere Rückseite mit dem Bild "Der Abschied" zu bemalen. Seine "Dodo" übertünchte er sogar mit Schlämmkreide, sodass sie im Werkverzeichnis Donald E. Gordons gar nicht auftauchte. Erst 1982 wurde sie wieder freigelegt und sogar der darauf befindliche Nachlassstempel entfernt. Von den nun wieder beidseitig sichtbaren Gemälden auf dieser Leinwand wird seitdem nur noch das frühe Werk in Ausstellungen gezeigt, obwohl der nun unwichtiger scheinende spätere "Abschied" einst ein bekanntes Bild war, das sowohl in Carl Einsteins berühmtem Band über "Die Kunst des 20. Jahrhunderts" aus dem Jahr 1926 abgebildet, als auch 1927 in der berühmten Ausstellung der Münchener Neuen Secession im Münchner Glaspalast zu sehen war.
Ein weiteres Beispiel der "Umwertung" einer Leinwand wird aus dem Städel in Frankfurt gezeigt. Dort betrachtete man ein späteres Werk Kirchners, die "Nackte Frau am Fenster" (1922/23) über Jahrzehnte als Vorderseite, die so auch im Museum präsentiert wurde. Als man das Bild, das in den 1950er Jahren mit zahlreichen anderen Werken Kirchners aus der Sammlung des Mäzens Carl Hagemann ins Museum kam, im Rahmen einer Ausstellung 2010 restaurierte, entdeckte man die vorher kaum beachtete "Liegende Frau in weißem Hemd" aus dem Jahr 1909 quasi neu und zeigt seitdem diese Bildseite, weil man sie für qualitätvoller hält, als bedeutendes frühes Werk des Künstlers aus seinen Dresdner Jahren.
Kunstwert und Markt
Dennoch besteht Lucius Grisebach, einer der besten Kirchner-Kenner, in seinem lesenswerten Katalogbeitrag auf der "Werkintegrität" und lässt allein die einst vom Künstler getroffene Entscheidung gelten. Den Kunsthandel, in dem Zahlen sprechen und zählen, interessieren solche kunstwissenschaftlichen Feinheiten eher wenig. "Früh ist besser als spät, Straßenszenen sind sowieso das Größte, und nackt ist expressionistischer als angezogen", beschreibt Grisebach die auf dem Kunstmarkt wichtigen Wertmaßstäbe.
Die Bestätigung seiner These liefert die Tatsache, dass in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Mannheimer Ausstellungseröffnung beim Londoner Auktionshaus Christie’s für Kirchners "Badende am Meer" aus dem Jahre 1913 bei über 1,1 Millionen Pfund der Hammer fiel. Die von Kirchner eigentlich bestimmte "Vorderseite" dieses Doppelbildes, die neun Jahre später gemalte "Schlittenfahrt" mit winterlich gekleidetem Personal, hätte bei der Versteigerung sicherlich viel weniger eingespielt.
Die Ausstellung "Der doppelte Kirchner. Die zwei Seiten der Leinwand" ist noch bis 31. 5. in der Kunsthalle Mannheim zu sehen, danach im Kirchner Museum Davos vom 21. Juni 2015 bis 8. November 2015.Das gleichnamige Begleitbuch, herausgegeben von Inge Herold, Ulrike Lorenz und Thorsten Sadowsky, enthält wissenschaftliche Aufsätze und ein Verzeichnis der doppelseitig bemalten Leinwände Kirchners. Wienand Verlag, Köln, 216 Seiten, 374 Abbildungen, 36,- Euro.Oiiver Bentz, geboren. 1969, lebt als Publizist in Speyer und schreibt über Kultur, insbesondere über Bildende Kunst und Literatur.