"Nicht die Analphabeten und Obdachlosen haben Geld verzockt und zur Krise geführt."
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"Wiener Zeitung": Was funktioniert am österreichischen Bildungssystem nicht? Erwin Wagenhofer: Mich interessierten in diesem Film nicht die kosmetischen Fehler der Haupt- oder Gesamtschule. Es ging mir darum, die Haltung zum Thema Bildung aufzuzeigen. Bildung ist ein schwammiger Begriff. Wir brauchen neue Begriffe. Erziehung sollte gegen das Wort Beziehung ausgetauscht werden. Wir glauben Kinder kommen leer zur Welt. Das stimmt aber nicht. Sie hätten aber unendlich viele Möglichkeiten. Werden sie positiv beeinflusst, dann blühen sie auf. Wie wir sie jetzt behandeln führt das dazu, dass unsere Kinder Geld, Effizienz und Wirtschaftlichkeit für das wichtigste im Leben halten.
Also ist die Bildung an vielem schuld?Wagenhofer: Ja, es sind nämlich nicht die Analphabeten und Obdachlosen, die das Geld verzocken und zur Krise geführt haben. Das waren Leute, die vorher an den besten Universitäten der Welt studiert haben. Die haben die Finanzmärkte zu dem gemacht was sie heute sind, nicht die Arbeitslosengeldbezieher.
Was hat das mit Bildung zu tun?Wagenhofer: Wir wollen, dass alle Kinder gleich sind. Die Gesellschaft stellt einen Bedarf fest. Etwa, dass wir 600.000 Programmierer brauchen. Dann produzieren wir sie. Ein paar Jahre später ändert sich der Bedarf und wir trimmen unsere Kinder dann darauf. Derzeit sollen alle Kinder auf Fächer wie Mathematik, Informatik spezialisiert sein. Wir achten nur auf Quantität, nicht auf Qualität. Wenn ich Kindern vorschreibe, was sie zu tun haben, verlieren sie die Lust am lernen. Wir treiben es ihnen aus und verbilden sie. Das was sie derzeit beigebracht bekommen, ist sehr wenig. Kinder verbringen zirka zwölf Jahre in der Schule. Wer weiß, was ihnen hängen bleiben würde, wenn sie in dieser Zeit das machen könnten, was sie wollen.
Der Film zeigt zwei Extreme: das strenge chinesische Schulsystem und den Drill bei der McKinsey Unternehmensberaterausbildung, dann wieder zeigt er positiv bewertetet Bildungsalternativen wie Rudolf-Steiner- oder Montessori-Schulen. Der klassische Bildungsweg, den viele in Österreich gehen, bleibt außen vor.Wagenhofer: Der klassische Weg wird durch China abgedeckt.
Also geht es den österreichischen Schülern wie den chinesischen?Wagenhofer: China ist das Vorbild für Österreich und ganz Europa. Die Chinesen haben die besten Werte. Wir haben begonnen, Bildung zu ranken. Obwohl das gar nicht geht. Man kann einzelne Menschen nicht nach denselben Maßstäben beurteilen. Wenn uns suggeriert wird, wir sollen so fleißig wie die Asiaten sein, dann will ich auch zeigen, wie sie lernen und studieren. Filme machen heißt, etwas zu zeigen und ich will Extreme zeigen.
Manche Protagonisten kommen in Ihren Filmen nicht gut weg. Beispielsweise der Nestlé-Konzernchef in "We feed the world" oder Top-Manager in "Alphabet". Wissen diese bei den Dreharbeiten, dass Sie sie negativ zeigen werden?Wagenhofer: Ich kann niemanden ohne dessen Erlaubnis filmen. Sie sagen im Interview Dinge, die sie 100 andere Male zuvor auch gesagt haben. Das ist ihre Meinung, und zu der stehen sie auch. Ein Film ist nichts anderes als Kontextkunst. Ich verbinde das chinesische Bildungssystem mit dem Pisa-Test, damit die Zuseher einen Zusammenhang erkennen.
Aber so wie Sie Wirtschaftsbosse in Ihrer Konzeptkunst aufbereiten, wirken diese schon sehr boshaft.Wagenhofer: In einen Film von 90 Minuten länge muss ich den Inhalt einfach darstellen. Würde ich es hochkomplex und wissenschaftlich aufbereiten, hätte es keinem Platz im Kino. Und ich möchte mit dem Film eine Bewegung auslösen.
Sie wollen also eine grundlegende Systemänderung. Das ist doch utopisch.Wagenhofer: Das würde ich so nicht sehen. Aus der Zivilgesellschaft heraus entwickelt sich gerade eine Bewegung. Nicht, weil die Politik das will, sondern weil die Eltern ungeduldiger werden. Ich bin aber tief davon überzeugt, dass sich in nächster Zeit einiges bewegen wird.
Wie sehen die Lehrer und die Schulen der Zukunft aus?Wagenhofer: Ich hoffe, dass in der Schule der Zukunft ein Raum geschaffen wird, in dem Kinder die Möglichkeit haben, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Lehrer werden nicht mehr belehren, sondern zeigen. Sie können einen Menschen nicht bilden. Er kann sich nur selber bilden.
Der österreichische Filmemacher Erwin Wagenhofer bringt nach "We feed the world" und "Let’s make money" mit, "Alphabet" den dritten Film seiner Dokumentarfilm-Triologie heraus. Diesmal übt er Kritik am österreichischen Bildungssystem, das er als veraltetet und unkreativ befindet. Alphabet startet am 11. Oktober in den Kinos.