Projekte gegen Bildungsungleichheit: Akademiker und Jugendliche lernen mit Kindern aus benachteiligten Familien.
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Wien. "Wovon träumt ihr?", fragt die Klassenlehrerin Claudia Müllauer in lupenreinem Englisch. Ein Schüler zeigt auf und antwortet - nicht ganz so akzentfrei, aber immerhin auch auf Englisch -, er wäre gerne sein eigener Chef. 10 Uhr Vormittag in der 3b in der Neuen Mittelschule Leibnizgasse in Wien-Favoriten. In der Englischsstunde sollen die 12- bis 13-Jährigen ihre Zukunftswünsche auf weißes Papier schreiben. Trotz des großen A3-Formats sagt eine Schülerin nach einer Viertelstunde: "Mein Blatt ist voll."
"Ein Job, der erfüllt"
Dass in Österreich der soziale Aufstieg durch Bildung oft ein leeres Versprechen bleibt, hat die jüngste OECD-Studie wieder einmal gezeigt: Demnach haben nur 21 Prozent der 25- bis 34-Jährigen einen höheren Abschluss als ihre Eltern. Syrien, Rumänien, Mazedonien, Gambia: Die 3b vereint 24 Kinder aus zehn Nationen. "Die meisten sagen, sie wollen Friseurin, Verkäuferin oder - was eh schon super ist - Kfz-Mechaniker werden", erzählt Müllauer, die neben Englisch auch Bildnerische Erziehung und Berufsorientierung unterrichtet. "Ich will ihnen zeigen, welche Möglichkeiten es in diesem Land, in dem Bildung ja kostenlos ist, gibt."
Müllauer ist in Pakistan, Südkorea und Japan aufgewachsen, hat Jus, Politik- und Islamwissenschaften studiert und an der Universität Wien zu Integration geforscht, bis sie sich vor drei Jahren dazu entschlossen hat, in die Praxis zu gehen und zu unterrichten. Die 30-Jährige ist eine von derzeit 64 "teachforaustria"-Fellows. So werden "persönlich und fachlich herausragende Hochschulabsolventen" genannt, die an Wiener und Salzburger Pflichtschulen vermittelt werden. Im Normalfall unterrichten diese dann für zwei Jahre an Neuen Mittelschulen (NMS), Kooperativen Mittelschulen und Polytechnischen Schulen. Unter den Quereinsteigern befinden sich eine Quantenphysikerin, Wirtschaftswissenschafter oder ein Bildender Künstler. Sie unterrichten 7500 Kinder und Jugendliche an derzeit 35 Schulen.
Dass sie nicht wie andere Pflichtschullehrer an den Pädagogischen Hochschulen studiert haben, brachte dem Programm anfangs Kritik ein - doch das Auswahlverfahren ist durchaus "fordernd", sagen die Organisatoren: Der Online-Bewerbung folgt ein Assessmentcenter, nur ein Zehntel der rund 600 Bewerber wird aufgenommen. Hat man es geschafft, folgt im Sommer eine zehnwöchige pädagogische Ausbildung, in der Praxis gesammelt wird, auch während des Schuljahrs gibt es Workshops und Supervision. "Ich kenne niemanden, der am ersten Schultag keine wackligen Knie hat", so Müllauer, die vor allem in der Anfangszeit auf die Hilfe der anderen Fellows sowie des Lehrerverbands an der NMS Leibnizgasse zählen konnte.
"Man braucht Verbündete"
"Man kann nur gut unterrichten, wenn man starke Verbündete hat." Denn der Lehrerjob verlangt einem viel ab, wie sie sagt: Ihr Tag beginnt um etwa 7 Uhr, erst ab 13 Uhr habe sie wieder Zeit, um Luft zu holen und darüber nachzudenken, was in der Zwischenzeit eigentlich passiert ist. "Man muss in sehr wenig Zeit sehr viel verarbeiten, immer voll da sein, und es ist egal, wie es dir gerade geht." Ursprünglich wollte sie "ihren Idealismus für zwei Jahre ausleben", doch sie stellte fest: Anders als an der Universität bekommt sie hier Feedback, und: "Das ist ein Job, der erfüllt." Und der Job bedingt Idealismus: Während "normale" Junglehrer im ersten Jahr 2100 Euro brutto bekommen, bleibt es für die Fellows bei diesem Gehalt, auch wenn sie die maximal möglichen vier Jahre unterrichten.
Teachforaustria ist eine gemeinnützige GmbH und wird durch Spenden, Investoren und vom Integrationssekretariat sowie dem Land Salzburg finanziert. Das Projekt wird von der Universität Klagenfurt wissenschaftlich begleitet und hat zum Ziel, die Bildungschancen für Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien zu verbessern - doch kann es schaffen, woran Österreichs Bildungspolitik seit Jahren scheitert? "Langfristig sicher", so ein Sprecher von teachforaustria, aber in Österreich sei es noch zu früh, als dass sich Wirkungen abzeichnen würden. Das Programm startete in den USA, Ableger gibt es in mittlerweile 32 Ländern, zuletzt ist Uruguay dazu gestoßen.
"Susis" lernen mit "Karlis"
Seit kurzem kooperiert teachforaustria mit "talentify". Bei diesem Projekt geben Jugendliche Höhere Schulen ("Susis") jüngeren Kindern aus benachteiligten Familien ("Karlis") Nachhilfe. "Wir haben festgestellt, dass wir dieselbe Vision haben", sagt talentify-Gründer Bernhard Hofer über die Zusammenarbeit. Talentify ist ein Social Business und will Jugendliche mit Paten, aber auch mit Firmen vernetzen, die Praktika oder Kurse anbieten. Da es in Österreich etliche engagierte Bildungsinitiativen gebe, diese aber zu wenig vernetzt seien, hat Hofer das Bildungsevent "stEFFIE" ins Leben gerufen, das am kommenden Wochenende in Wien stattfindet. Das Event richtet sich nicht nur an Bildungsaktivisten, sondern mit Workshops von Roboterbau bis Impro-Theater auch an Schüler, Lehrer und Eltern.
Und was wünscht sich Müllauer für ihre Schützlinge? "Dass sie nach der vierten Klasse eine höhere Schule besuchen." Für das kommende Schuljahr hat die Politikwissenschafterin eine Exkursion an ihren alten Arbeitsplatz, die Universität Wien, geplant.
Interessierte können sich ab 1. Oktober als Fellows für das Schuljahr 2015 bewerben: www.teachforaustria.at
Von 26.-28. 9. findet an der Vienna Business School das stEFFIE- Festival für Wissenshungrige, Querdenker und Neugierige statt: steffie-festival.com www.talentify.co