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Billiges Getreide für 800 Millionen Menschen

Von WZ-Korrespondentin Agnes Tandler

Politik

Indiens Parlament beschließt Mega-Programm gegen Armut.


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New-Delhi. Grünes Licht für das größte Hungerbekämpfungsprogramm der Welt: Indiens Parlament beschloss Montagnacht nach zahlreichen Anläufen ein neues Gesetz, das subventioniertes Getreide für 800 Millionen Menschen verspricht. Die regierende Kongresspartei hofft, damit den schwindenden Rückhalt ihrer Stammwähler zurückzugewinnen - in wenigen Monaten stehen in der größten Demokratie der Welt (Indien über Indien) Abstimmungen für eine neue Volksvertretung an.

Während der neunstündigen Debatte im Parlament in New-Delhi verteidigte die sonst extrem öffentlichkeitsscheue Chefin der Kongresspartei, Sonia Gandhi, das Gesetzesvorhaben vor den Abgeordneten. Sie halte damit ihr Versprechen ein, Hunger und Mangelernährung in Indien abzuschaffen, sagte die 66-jährige Schwiegertochter der früheren Premierministerin Indira Gandhi, die inzwischen die mächtigste Politikerin Indiens ist. "Die Frage ist nicht, ob wir es uns leisten können oder nicht. Wir müssen es machen," sagte Gandhi.

Trotz des rasanten wirtschaftlichen Aufstiegs Indiens in den vergangenen 15 Jahren leben laut Weltbank immer noch um die 70 Prozent der über 1,2 Milliarden Menschen unterhalb der Armutsgrenze von weniger als zwei US-Dollar am Tag.

Die Hälfte der indischen Kinder sind untergewichtig

Indien hat zudem weltweit die meisten mangelernährten Kindern. Jedes Fünfte ist in seiner Entwicklung zurückgeblieben, weil es zu wenig oder nicht ausreichend nahrhaftes Essen bekommt. Die Hälfte aller Kinder ist untergewichtig.

Gegner des ambitionierten Subventionsprogramms mit Kosten von knapp 18 Milliarden Euro pro Jahr wenden hingegen ein, dass der Vorstoß der Regierung rein populistischen Zwecken dient, aber wenig dazu beiträgt, Hunger und Armut in Indien zu bekämpfen. Die Kosten des Programms seien angesichts der momentanen Wirtschaftskrise in Indien nicht zu bewältigen. Als Reaktion auf die Verabschiedung des Gesetzes fiel die indische Währung auf unter 66 Rupien zum Dollar. Der Aktienindex Sensex verlor über Nacht 600 Punkte. Das Gesetz muss noch vom Oberhaus des Parlaments gebilligt werden.

Kiran Mazumdar Shaw, Chef der Pharma-Firma Biocon und vehementer Kritiker des Gesetzes, erklärte: "Es ist keine Überraschung, dass das Ernährungssicherheitsprogramm durchgekommen ist. Aber die Frage ist, wird das Programm uns finanziell in den Abgrund reißen?"

"Aus Erfahrung wissen wir, dass Lebensmittelprogramme (...) eine Lizenz zur Misswirtschaft sind", kritisierte der indische Wirtschaftswissenschaftler Surjit Bhalla das Vorhaben in der Zeitschrift "The Diplomat". "Die Mehrheit des ausgegebenen Geldes kommt nicht bei den Armen an. Stattdessen gehen drei Viertel der für die Armen bestimmten Ausgaben an die Mittel- und Oberklasse."

Hilfsprogramme werden durch Korruption entwertet

Indien hat zahlreiche gut gemeinte Regierungsprogramme und Essensverteilungssysteme - von kostenlosen Schulspeisungen über Lebensmittelkarten, Arbeitsbeschaffungsprogrammen, Unterstützung von Schwangeren, Familien- und Altenhilfen bis zu Hausbauzulagen und andere mehr. Doch im chaotischen, indischen Alltag ist ganz am unteren Ende der Pyramide oft wenig davon zu spüren.

Praktisch alle Programme sind immer wieder wegen Korruption und Misswirtschaft in den Schlagzeilen. Sie sind insgesamt schlecht ausgeführt und kontrolliert. Mitte Juli etwa starben im bettelarmen Bundesstaat Orissa mehr als 22 Kinder nach einem kostenlosen Schulessen, das mit vergiftetem Getreide zubereitet worden war. Kostenlos oder vergünstigt abgegebene Lebensmittel sind oft von schlechter Qualität oder werden mit Sand oder anderen, nichtessbaren Substanzen gestreckt, um den Profit der Verkäufer zu erhöhen.

Ähnliche Probleme gibt es bei den staatlichen Lebensmittelmarken. Das ärmste Fünftel der Bevölkerung erhält kaum Essenskarten, um an Reis- oder Getreidehilfen der Regierung zu kommen. Weil viele arme Inder keine offiziellen Identitätspapiere haben, gelangen die Marken in die Hände von Lokal-Politikern und anderen einflussreichen Personen auf dem Lande. Eine offizielle Untersuchung aus dem Jahr 2011 kommt zum Schluss, dass der illegale Abfluss aus dem sozialen Umverteilungssystem "viel zu hoch" ist.