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Birkenzucker statt Zahnpasta

Von Jeannette Villachica

Reflexionen

Sandra Krautwaschl lebt mit ihrer Familie seit drei Jahren fast plastikfrei. Das Experiment erfordert große Standhaftigkeit - und Kompromissbereitschaft.


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In dem kleinen Supermarkt, in dem Sandra Krautwaschl häufig einkauft, ist es mittlerweile selbstverständlich, dass sie den losen Käse in ihre mitgebrachte Dose gelegt bekommt. Wenn sie woanders einkauft und erklärt, dass sie der Umwelt zuliebe auf Plastikverpackung verzichten möchte, trifft sie bei vielen Angestellten auf Verständnis - und wird dennoch meist abgewiesen: "Aus Hygiene-Gründen. Die Vorschrift im Supermarkt lautet: Die mitgebrachte Dose darf nicht die andere Seite der Theke berühren, weil mit der Dose Keime eingeschleust werden könnten. Das ist absurd." Mittlerweile hat sie schon ein paarmal gesagt: "So, jetzt halte ich die Dose in die Luft, und Sie tun mir den Käse in die Dose rein. Dann kommt sie nicht mit der Theke in Berührung." Das sei ihr noch nie verwehrt worden. "Aber das tut natürlich nicht jeder. Den meisten Menschen wird es zu blöd sein, immer wieder um solche Dinge zu kämpfen." Deswegen gehe es längerfristig darum, gesetzliche Vorschriften in Frage zu stellen und die Rahmenbedingungen zu ändern.

Die Familie Krautwaschl und Rabensteiner mit dem entsorgten Plastikhausstand.
© Foto: Guggenberger

Keine Missionarin

Sandra Krautwaschl ist keine Aktivistin im herkömmlichen Sinn. Die 42-jährige Physiotherapeutin versucht nur, sich und ihre Familie gesundheits- und umweltbewusst durch den Alltag zu bringen. Dabei beweist sie jedoch mehr Konsequenz als die meisten von uns, ohne verbissen ihr ganzes Leben darauf auszurichten oder ihrem Umfeld missionierend auf die Nerven zu gehen. Sie tut, was wir alle tun könnten oder zumindest diejenigen von uns, die über das nötige Geld und die Zeit für eine solche Umstellung verfügen.

Bis vor drei Jahren sind Sandra Krautwaschl, ihr Mann Peter Rabensteiner und ihre drei Kinder nie durch besonderes Engagement für die Umwelt aufgefallen. Die Familie lebt in einer 3000-Seelen-Gemeinde, 14 Kilometer von Graz entfernt. Als sie mit dem Experiment begannen, besaßen sie ein Auto, Computer, Handys und alle möglichen anderen elektronischen Geräte, einen Geschirrspüler, Schränke voller Tupperware, Gartenmöbel aus Plastik, haufenweise Plastikspielzeug und fuhren Ski. Krautwaschl kaufte zwar schon damals häufig im Bioladen und schwor auf homöopathische Mittel, war aber nicht nur in punkto Kleidung eine Schnäppchenjägerin und Sammlerin: Wenn etwas schön und günstig war, griff sie zu. Woraus es bestand und wie es hergestellt wurde, war zweitrangig.

Das änderte sich, als sie im September 2009 Werner Bootes Dokumentarfilm "Plastic Planet" sah: "Was mich an dem Film sehr schockiert hat, war der ganze Bereich der Chemikalien, die bei der Plastikherstellung eingesetzt werden, und die eine hormonähnliche Wirkung haben." Da wurde ihr bewusst, dass das eine Quelle der Gesundheitsbeeinträchtigung ist, die sie bis dahin nicht als solche wahrgenommen hat. "Selbst wenn man hin und wieder gehört hat, dass ein Kinderspielzeug aus China kontaminiert ist, denkt man doch: ,Okay, das ist China. Was hier auf den Markt kommt, ist geprüft und gesundheitlich unbedenklich.‘ Aber so ist es nicht." Später fiel ihr wieder ein, wie empfindlich sie als Kind auf die Dämpfe in fabrikneuen Autos reagierte. Und dass sie von scharfen Putzmitteln Kopfschmerzen oft bekam.

"Weichmacher in Bodenbelägen, Plastikstrudel im Pazifik, intersexuelle Fische in englischen Flüssen, Opfer der Polivynilchloridproduktion in Venedig, Bisphenol A in Babyschnullern, Unfruchtbarkeit, ohnmächtige EU-Politiker und arrogante Vertreter der Plastikindustrie, all das und noch viel mehr schwirrt mir im Kopf rum", schreibt Sandra Krautwaschl in ihrem Buch "Plastikfreie Zone", das davon handelt, warum und wie ihre Familie seit drei Jahren fast plastikfrei lebt. Der Film "Plastic Planet" ging ihr dermaßen unter die Haut, dass sie beschloss, einen Monat lang auszuprobieren, ob eine ganz normale Familie wie die ihre nicht plastikfrei einkaufen kann. Ihr Mann und die Kinder waren sofort Feuer und Flamme, wobei sich alle einig waren, dass das Experiment auch Spaß machen muss. Wenn ihr Familienfrieden dadurch beeinträchtigt würde, wollten sie sofort damit aufhören.

Ihr erster "plastikfreier" Einkauf verlief ernüchternd. Sandra Krautwaschl hatte "ganz blauäugig" gedacht, dass es in Bioläden und Reformhäusern viel mehr "offen" oder zumindest ohne Plastikverpackungen gibt. Sie und ihr Mann suchten dann auch andernorts gezielt nach plastikfreien täglichen Verbrauchsgütern wie Lebensmitteln, Kosmetika, Putzmitteln und Toilettenpapier: auf Bauernmärkten, bei Bauern und Firmen in der Umgebung, in Geschäften in Graz, die sie noch nie betreten hatten, und im Internet. Weil sie nach einem Monat das Gefühl hatten, gerade erst angefangen zu haben, weiteten sie ihr Experiment zeitlich und inhaltlich aus. Zu dieser Zeit hatte Sandra Krautwaschl auch schon Werner Boote kontaktiert, der die Idee hatte, das Experiment mit einem Blog zu begleiten. Dass später sogar ein Buch daraus entstehen würde, damit hatte Sandra Krautwaschl nicht gerechnet.

Alternative Produkte

Werner Boote hatte auch die Idee, ihren gesamten Plastikhausstand für ein paar Fotos vors Haus zu tragen. Die Krautwaschls und Rabensteiners hatten jedoch so viele Dinge aus Plastik, dass sie gar nicht alle aufs Bild passten. Im Zuge der Aufräumaktion sortierte die Familie gleich haufenweise Kinderspielzeug, Haushaltsgegenstände, Spül-, Putz- und Duschmittel aus. Jetzt gibt es in Küche und Bad nur noch Essig und Zitronensäure und einen milden Allzweckreiniger, der auch zum Duschen und Haarewaschen geeignet ist. "Das ist ein Riesen-Einspar-Potenzial."

Sandra Krautwaschl weist darauf hin, dass sie zwar jetzt ein Drittel mehr für Lebensmittel ausgeben, ihre Lebenshaltungskosten insgesamt aber nicht gestiegen sind. "Dafür bedarf es aber einer Gesamtumstellung. Zum Beispiel verwenden wir jetzt Birkenzucker statt Zahnpasta, den kann man auch im Internet bestellen. Der ist stark karieshemmend, offen erhältlich und im Vergleich unfassbar billig." Bei den essenziellen Dingen gebe es gute Alternativen und die meisten davon seien nicht teurer oder sogar günstiger als ihre bisherigen Produkte.

Doch nicht alles lässt sich durch ein plastikfreies Pendant ersetzen: Fahrradhelme etwa, Unterhaltungselektronik und Medikamente, Turnschuhe oder Klebstoff für die Schule. Längst gehe es nicht mehr nur darum, Plastik aus dem Haus zu verbannen, sondern um das Konsumverhalten allgemein, darum, nicht mehr den neuesten Produkten hinterher zu jagen. "Ich habe mir geschworen, nie mehr ein neues Handy zu kaufen, weil überall Handys herumliegen, die noch funktionieren", bekennt Krautwaschl, - springt auf und läuft in das Zimmer nebenan, wo das Telefon klingelt. Als sie zurückkommt: "Das war jetzt mein Mann, der Dinkel-Lasagneblätter gesucht hat. Auch die gibt es bei uns nirgends ohne Plastik-Sichtfenster. Die brauche ich aber trotzdem, weil unsere Tochter keinen Weizen verträgt. Dann gibt es sie halt nur sehr selten. Das Ganze strotzt sowieso vor Kompromissen und hat trotzdem sehr viel Sinn."

Die ersten zwei Monate hat die Recherche sehr viel Zeit gekostet. Die Einkaufslogistik hat sich aber relativ schnell so verändert, dass der plastikfreie Einkauf nicht mehr Zeitaufwand bedeutet. "Wenn ich in einem bestimmten Geschäft in Graz, wo es Sauerrahm in Flaschen gibt, nicht vorbeikomme, gibt es zu Hause eben keinen Sauerrahm. Sprich: Dann koche ich eben, was ich zu Hause habe. Ist ja eigentlich auch logischer." Es sei Ausdruck unseres Überflusses, dass man zu jedem Zeitpunkt alles verfügbar haben muss, findet sie.

Die Familie verabschiedete sich von immer mehr alten Gewohnheiten, jetzt lässt sich ihre Lebensweise nicht mehr zurückdrehen. Im Haus gibt es dennoch vieles aus Kunststoff, auch Dinge wie Kühlschrank und Waschmaschine, ohne die ein Leben in unserer Gesellschaft kaum möglich wäre. "Aber beim Einkaufen gibt es so gut wie kein Plastik, und wir haben jetzt natürlich sehr viel weniger Müll", sagt Krautwaschl.

Soziale Aspekte

Für sie stehen nun soziale Aspekte im Vordergrund: "Darf es sein, dass sich nur eine gewisse Schicht Gesundheit und ökologischen Lebensstil leisten kann? Ich bin der Meinung, das darf einfach nicht sein." Dennoch glaubt sie, dass die Menschen, die es sich leisten können, mit dem Umdenken beginnen müssen. "Und das heißt nicht, alles, was hochwertig ist, zusammenzukaufen, sondern weniger zu kaufen, durch weniger Konsum mehr Zeit haben."

Als sie einmal nach dreimonatiger Abstinenz einen Supermarkt betrat, hat sie das Überangebot schockiert. "Dreißig verschiedene Joghurtsorten wieder vor sich zu sehen, wo man lange nur eine Sorte im Pfandglas gekauft hat, das war befremdlich." Sie habe gemerkt, dass diese riesige Auswahl unnatürlich ist, weil sie nicht dazu diene, unsere essenziellen Bedürfnisse zu stillen, sondern wirtschaftliche Interessen befriedige.

Krautwaschl findet es wichtig, mit Menschen im Gespräch zu bleiben. "Nicht missionarisch, das bringt sowieso nichts, aber man kann Fragen stellen." Sie hat schon mit dem Supermarktleiter darüber diskutiert, warum keine Glaspfandflaschen mehr da sind. Meist fielen dann die Stichwörter "Hygiene" und "Kundenwunsch". Manchmal ruft sie auch bei Online-Shops an und fragt, wie das Produkt verpackt wird. "Die großen Versandhändler sind, auch wenn sie noch so öko sind, was Plastikverpackungen angeht, teilweise unbelehrbar. Andere bemühen sich sehr. Je kleiner die Firma, desto größer die Chance, dass sie Sonderwünsche berücksichtigen."

Noch besser wäre es freilich, wenn der plastikfreie Versand kein Sonderwunsch mehr wäre.

Jeannette Villachica, geboren 1970, lebt als Kultur-, Reise- und Gesellschaftsjournalistin (modernes Leben, Familie) in Hamburg.

Sandra Krautwaschl: Plastikfreie Zone. Wie meine Familie es schafft, fast ohne Kunststoff zu leben. Heyne Verlag, München 2012, 8,99 Euro.
Blog von Sandra Krautwaschl über ihr plastikfreies Leben