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Bis es wieder kracht

Von WZ-Korrespondentin Birgit Holzer

Politik

Vor zehn Jahren löste der Tod zweier Jugendlicher in einem Pariser Vorort wochenlange Krawalle aus. In der vernachlässigten Banlieue hat sich seither manches getan - vieles bleibt aber ungelöst.


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Paris. Sein Diplom hat Mehdi nicht einfach nur entgegengenommen und abgelegt. Stolz fotografiert er es von allen Seiten. Wer hätte gedacht, dass er, der Schulabbrecher aus der verrufenen Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois, einmal eine Auszeichnung erhalten würde? "Er glaubte ja selbst nicht daran", sagt Tithrith Kasdi vom Verein CPCV, der sich um die berufliche Eingliederung junger Menschen in sozialen Brennpunkten kümmert. Das verliehene Diplom ersetzt weder ein Schul- noch ein Studienzeugnis, ist aber eine Wertschätzung, die junge Männer wie Mehdi sonst kaum bekommen.

"Viele sagen, die wollen doch gar nicht lernen oder sich anstrengen", klagt Kasdi. "Aber sie bekommen ja keine Chance." Zumindest Anlaufstellen wie das CPCV wollen diese geben und damit verhindern, dass die Lage in den Banlieues, den französischen Vorstädten, erneut so eskaliert wie vor zehn Jahren. Damals erschütterten wochenlange Ausschreitungen ganz Frankreich. In mehr als 300 Vororten lieferten sich Jugendliche und die Polizei brutale Straßenschlachten. Tausende Autos brannten, Präsident Jacques Chirac rief den Ausnahmezustand aus.

Ausgelöst wurden die Krawalle vom tragischen Tod des 17-jährigen Zyed Benna und des 15-jährigen Bouna Traoré Ende Oktober 2005. Auf der Flucht vor einer Polizeikontrolle überwanden sie die Absperrung zu einem Transformatorenhäuschen, ohne dass die Beamten sie warnten. "Wenn sie auf das Gelände gehen, gebe ich nicht mehr viel auf ihre Haut", sagte einer von ihnen im Polizeifunk. Unmittelbar danach wurden Zyed und Bouna von tödlichen Stromschlägen getroffen und damit zu den traurigen Symbolen einer stigmatisierten, ja verlorenen Banlieue-Jugend. Ein Prozess um die Verantwortung der Polizisten endete im Frühjahr mit Freisprüchen. Das Urteil bestärkte das Gefühl tiefer Ungerechtigkeit in Clichy-sous-Bois noch weiter.

Brutstätten für Islamismus

Es ist kein Zufall, dass die Unruhen von hier ausgingen, wo sich heute wie damals alle Probleme der französischen Vororte konzentrieren. Die Stadt liegt nur 15 Kilometer von Paris entfernt - und ist doch eine andere Welt, ausgegrenzt, in sich gefangen. Einen Autobahnzubringer gibt es nicht und mit öffentlichen Verkehrsmitteln dauert die Fahrt in die Hauptstadt eineinhalb Stunden.

Graue Plattenbauten prägen das Stadtbild. Fast die Hälfte der gut 30.000 Einwohner lebt unter der Armutsgrenze. Meist handelt es sich um Migrantenfamilien, ab den 1960er Jahren wurden aus den ehemaligen Kolonien angeworbene Arbeitskräfte hier untergebracht. Die Jobs sind längst weg, die Menschen blieben und verarmten. 52 Prozent der Einwohner sind minderjährig, doch fehlt es dieser Jugend an Perspektiven.

"Wer bei der Bewerbung im Lebenslauf eine schlecht angesehene Banlieue als Wohnort angibt und dann noch einen ausländisch klingenden Namen hat, wird sofort aussortiert", sagt Tithrith Kasdi, die selbst im Alter von 13 Jahren aus Algerien nach Frankreich kam. Viele gleiten schon als Teenager in Kleinkriminalität und Drogenhandel ab.

Zunehmend gelten die Banlieues auch als Brutstätten für radikalen Islamismus. Einer der Attentäter der Pariser Terror-Anschläge vom Jänner war in einem "Problemviertel" aufgewachsen. Premierminister Manuel Valls warnte vor der "territorialen, sozialen und ethnischen Apartheid".

Doch was unternimmt die Politik gegen die Ausgrenzung? Bereits nach den Unruhen von 2005 und 2007, als sie erneut aufflammten, versprach der Staat, sich endlich um die Misere in den Vorstädten zu kümmern. In seinem Wahlprogramm hatte François Hollande versprochen, diese zur Priorität zu machen. Diejenigen, die dort überhaupt zur Wahl gingen, stimmten überwiegend für den Sozialisten. Doch bei einem Besuch in La Courneuve erntete der Präsident nun Buhrufe. "Wann kommt er, der Wechsel?", rief ein Mann.

Dabei hat sich auch einiges getan. So gründeten sich zahlreiche Initiativen von Bewerbungshilfen über kulturelle Projekte. Im Rahmen eines umfangreichen Stadtrenovierungsprogramms reißt der Staat baufällige Plattenbauten ab und ersetzt sie durch maximal fünfstöckige Häuser. Clichy-sous-Bois verfügt inzwischen über eine Polizeiwache, ein Arbeitsamt und ein Schwimmbad - an alledem fehlte es lange ausgerechnet dort, wo Kriminalität und Arbeitslosigkeit etwa um das Doppelte über dem Landesdurchschnitt liegen. Viel erhofft man sich zudem von der Eröffnung einer Tram-Linie 2018. "Die Menschen wissen, dass wir daran arbeiten, die Dinge zu verbessern", versichert Bürgermeister Olivier Klein. "Aber sie wollen heute besser leben, nicht erst in zehn Jahren."

Die Banlieues bleiben ein Pulverfass, warnt Ouamar Benikene: "Wenn eine neue Eskalation verhindert wird, dann nur dank der Vereine und Ehrenamtlichen." Der 34-Jährige arbeitet in einem Freizeitzentrum gut 30 Kilometer südlich von Paris. Es bietet Aktivitäten und Ausflüge für Jugendliche an, die dazu sonst kaum die Möglichkeit haben. Eltern und Lehrer seien häufig überfordert, die Gesellschaft sehe weg. "Die Welt hat 2005 die Banlieue entdeckt, dabei war es verwunderlich, dass es nicht schon viel früher gekracht hat", sagt er. Inzwischen, so scheint es, hat die Welt die Banlieue wieder vergessen. Bis es wieder kracht?

Der Ausländer-Anteil in Frankreich liegt bei weniger als elf Prozent. Allerdings verbietet das Gesetz Statistiken über die ethnische Herkunft oder die Glaubenszugehörigkeit. Deshalb lässt sich die Zahl von Franzosen mit Migrationshintergrund kaum ermitteln. Viele von ihnen stammen aus den ehemaligen Kolonien in Nord- und Schwarzafrika - aus Algerien, Marokko oder der Elfenbeinküste. Sie stellen auch die überwältigende Mehrheit in den als soziale Brennpunkte verrufenen Banlieues, wie die Vororte der größeren Städte heißen. Während es auch reiche Luxus-Vorstädte wie Neuilly-sur-Seine oder Saint-Germain-en-Laye im Westen von Paris gibt, befinden sich die als "sensibel" geltenden Vororte vor allem im Norden und Nordosten sowie im Südosten. Gewalt und Kriminalität, Verwahrlosung, Arbeitslosigkeit und Armut sind hier besonders hoch. Menschen mit Migrationshintergrund klagen über Diskriminierung. Die Probleme ziehen großes Misstrauen vieler Franzosen gegenüber Einwanderung nach sich. Politisch profitiert davon vor allem der rechtsextreme Front National. Vor diesem Hintergrund zeigt sich die Regierung zurückhaltend bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Gut die Hälfte der Franzosen spricht sich dagegen aus. Paris will im Rahmen des EU-Verteilschlüssels 30.000 Asylbewerber empfangen. Bei der Zahl der Asylanfragen befindet sich Frankreich europaweit auf dem vierten Platz mit 64.000 im Jahr 2014. Davon wurden nur 22 Prozent akzeptiert. Mit der Unterbringung der Flüchtlinge zeigt sich das Land überfordert: Da es an Unterbringungsmöglichkeiten mangelt, leben viele in Obdachlosen-Heimen oder auf der Straße.

Migration und Asyl in Frankreich