· Ein privater Briefbogen mit dem Datum 1. September 1939, die Unterschrift Hitlers. Mehr brauchte es vor 60 Jahren nicht, um eine Tötungsmaschinerie in Gang zu setzen: die | Euthanasie behinderter und psychisch kranker Menschen. Vermutlich im Oktober hatte Hitler den "Euthanasieerlass" tatsächlich unterzeichnet und auf den Kriegsbeginn zurückdatiert. Er war auch damals | rechtswidrig und wurde doch befolgt wie ein Gesetz. Bis Kriegsende wurden rund 200.000 Menschen ermordet.
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Das Papier "ermächtigte" den Reichsleiter Philipp Bouhler und Hitlers Leibarzt Karl Brandt, "die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen
unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung der Gnadentod gewährt werden kann". Im Jänner 1940 quartierten sich die "Gutachter" in der Tiergartenstraße 4 in Berlin-Charlottenburg ein. An Hand von
Akten machten sie ihre Kreuze, die über Leben und Tod entschieden.
In Bussen mit schwarz gestrichenen Fenstern seien die Menschen bei den psychiatrischen Anstalten abgeholt worden, erzählt Gertrud Genvo von der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit
geistiger Behinderung in Marburg. Betroffen waren Dauerinsassen über fünf Jahre, sonst als unheilbar Geltende sowie alle jüdischen Kranken und Behinderten. Der "gemeinnützige Krankentransport" führte
in die Gaskammern von sechs Anstalten: Zunächst Grafeneck (Württemberg) und Brandenburg an der Havel, danach Bernberg (Sachsen-Anhalt), Pirna-Sonnenstein bei Dresden, Hadamar (Mittelhessen) und
Schloss Hartheim (Oberösterreich). Öffentlich verkündete die NS-Propaganda, die Anstalten würden als Lazarette "nutzbar gemacht". Nach dem Verbleib der Bewohner fragte niemand.
Nur hinter den Kulissen gab es Protest, etwa aus Kreisen der Kirchen. Bis am 3. August 1941 der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen die "furchtbare Lehre" von Gnadentod und unwertem
Leben von der Kanzel anprangerte. Seine mutige Predigt wurde danach auch von anderen Kanzeln verlesen und schriftlich verbreitet. "Das war der entscheidende Punkt für das Regime", meint Georg
Lilienthal, Leiter der Gedenkstätte Hadamar für die Opfer der NS-Euthanasieverbrechen: Hitler brach die nach der Berliner Adresse benannte "T4-Aktion" ab.
Die "Kreuzlschreiber" in der Tiergartenstraße hatten aber ihr "Soll" auch schon fast erfüllt: 70.000 kranke und behinderte Menschen waren bereits vergast worden. "Das Töten ging aber trotzdem
weiter", sagt Lilienthal. Nur ließen sich die Ärzte anderes einfallen, wie man Menschen unauffällig umbringen kann: durch überdosierte Medikamente, vitamin- und fettlose Nahrung, kalte Dauerbäder,
durch Gift. Dafür gab es weiter Zentralen, doch Morde gab es nun in fast allen Anstalten Deutschlands. Häufig wird deshalb von "wilder Euthanasie" gesprochen.
Bis zum Kriegsende wurden so nochmals bis zu 140.000 Menschen ermordet. Genaue Zahlen gibt es bislang nicht. Denn die Aufarbeitung des planmäßigen Mordes an Kranken und Behinderten hat erst spät
begonnen: "Um 1980 fing das so langsam an", erzählt Lilienthal. "Es sind noch viele Fragen offen."
Nach dem Krieg führten die Alliierten nur einen Euthanasieprozess vor dem US-Kriegsgericht in Wiesbaden. Wegen der Ermordung von 440 russischen und polnischen Zwangsarbeitern wurden dort der
Verwaltungsleiter von Hadamar und zwei Pflegekräfte zum Tode verurteilt, der verantwortliche Arzt bekam lebenslänglich. Für die deutschen Opfer waren die deutschen Gerichte zuständig. Auch dort gab
es vor Inkrafttreten des Grundgesetzes sogar noch Todesurteile, doch mit der Zeit wurden die Strafen immer milder. Verurteilte Täter, wie die Hadamar-Ärzte, wurden begnadigt. "Das Personal ist
eigentlich nicht zur Rechenschaft gezogen worden", konstatiert Lilienthal.