Der Innsbrucker Diözesanbischof, der auch als Familienbischof fungiert, spricht im Interview über den Vatikan und Homosexuelle, Corona-Ostern und die Asylpolitik.
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Es sind bewegte Zeiten für die Kirche: ein zweites Osterfest unter Corona-Bedingungen, lauter Protest auch hoher Geistlicher gegen das Nein aus dem Vatikan zur Segnung homosexueller Paare, ein neuer Missbrauchsskandal im Nachbarland - Stoff genug für ein Telefoninterview mit Österreichs Familienbischof Hermann Glettler (56). Der gebürtige Steirer, der seit Dezember 2017 die Diözese Innsbruck leitet, nimmt sich dabei kein Blatt vor den Mund.
"Wiener Zeitung": Ostern 2021 wird eher wie Weihnachten 2020 und nicht wie Ostern 2020. Sind Sie erleichtert?
Hermann Glettler:Ja, dieses Gefühl, wieder "gemeinsam" feiern zu dürfen, ist wunderbar - natürlich mit Sorgfalt und der Einhaltung der ganz strengen Vorgaben. Die innere Verbundenheit - mit Gott und den Menschen - drückt sich in der Liturgie aus, ganz wichtig angesichts der aktuellen Erschöpfung.
Waren die vergangenen zwölf Monate ein verlorenes Jahr?
Keinesfalls, auch wenn viele Folgeschäden aufzuarbeiten sind. Wir haben in der Krise die Notwendigkeit solidarischer Zusammengehörigkeit entdeckt. Ebenso gab es ein Umdenken in der Bewertung, was gesellschaftsrelevant ist. Hoffentlich eine nachhaltige Neubewertung der leicht zu übersehenden Arbeit - sowohl von jener in den Familien als auch an den sozialen Hotspots, in der Basisversorgung, Pflege und Sicherheit. Was fair und gerecht ist, muss neu ausdiskutiert werden. Wir haben auch gelernt: Ein funktionierendes Gesundheits- und Sozialsystem ist keineswegs selbstverständlich. Vielleicht nehmen wir auch ein wenig von der Achtsamkeit und Dankbarkeit mit, die es vor einem Jahr gab.
In der Kirche liegt die Nachwuchsarbeit seit einem Jahr großteils auf Eis. Das tut Ihnen sicher weh.
Es gab einen Einschnitt, der wehtut. Aber ich habe auch gemerkt, dass jene, die vorher schon einiges versucht haben, auch jetzt sehr kreativ mit jungen Leuten kommunizieren. Aber es ist nötig, neue Wege zu finden, wenn uns junge Leute ein wirkliches Anliegen sind. Insgesamt ist es eine große Herausforderung, das Schöne unseres Glaubens, die befreiende Botschaft Jesu möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen. Da ist doch so viel Entlastung drinnen, Mut zur Versöhnung und vor allem die Aufstehkraft in aller Enttäuschung. Ich habe Briefe an alle Schülerinnen und Schüler in Tirol geschrieben, um sie zu ermutigen. Es gab sehr schöne Reaktionen.
Was haben Sie denen geschrieben?
Dass ich ihre schwierige Situation verstehen kann. Aber dass ich sie trotzdem ermutige, sich nicht auf die eigenen unerfüllten Wünsche zu fixieren. Sie sollten einen Blick in ihre Umgebung werfen, wo vermutlich ein kleines Zeichen von Verständnis oder Hilfe sehr willkommen ist. Also die Falle des Selbstmitleids vermeiden. Wir gehören zusammen und brauchen einander, das wollte ich ihnen vermitteln. Ich bin überzeugt: Wenn man versucht, für jemanden da zu sein, wird man auch selbst beschenkt. Und ich habe sie ermutigt, mit Gott ins Gespräch zu kommen, wenn nötig, mit ihm zu streiten. In jedem Fall ihr Herz bei ihm auszuschütten. Mit Sicherheit antwortet Gott, oft ganz leise.
Sie streiten also auch mit Gott?
Ich frage gelegentlich ganz hartnäckig, warum dies oder jenes so sein muss und nicht zu ändern ist. Aber was mich trägt, ist ein tiefes Vertrauen. Gott, der Urquell unendlicher Liebe, ist für mich immer Anlass zum Staunen. Da bin ich recht kindlich. Ich schöpfe Mut für den Tag und bitte um die nötige Sanftmut für alle Auseinandersetzungen, in denen ich mich zu bewähren habe. Es gibt ja in unserer Gesellschaft eine hohe Empörungsbereitschaft. Gereiztheit liegt in der Luft. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann spricht von einer kollektiven Kränkung durch Corona. Viele rutschen in eine Systemwut hinein und reagieren in hohem Maße aggressiv. Da müssen wir wieder herauskommen.
Was sagen Sie zum Shitstorm nach dem Nein aus dem Vatikan zur Segnung homosexueller Paare?
Das war eine unnötige Kränkung vieler Menschen. Man hätte das Anliegen, eine kirchliche Eheschließung nicht mit einer Segensfeier zu verwechseln, viel stressfreier kommunizieren können. Vor allem wird durch eine so höchstoffizielle Klarstellung der persönliche Gestaltungsraum in der Seelsorge ganz eng. Ich bin ein Verfechter dafür, dass es auch Grauzonen geben kann. Traurig ist, dass Menschen gekränkt wurden, die in ihre gleichgeschlechtliche Beziehung viel an Verlässlichkeit und Fürsorge hineinlegen. Da ist meiner Meinung nach Segenswürdiges dabei. Das gänzlich abzusprechen, fällt mir sehr schwer.
Und was wünschen Sie sich als Familienbischof?
Als Familienbischof schlägt mein Herz für das Wohl der Familien in ihrer Buntheit, da sind auch alle Patchwork-Varianten und Alleinerziehenden mitzudenken. Gerade in der Corona-Krise haben wir gesehen, dass Familien wahnsinnig viel leisten. Sie sind Umschlagplätze für alles, was Kinder und Erwachsene erfreut und belastet. Am 19. März hat ein "Jahr der Familie" begonnen, ausgehend vom fünfjährigen Jubiläum des päpstlichen Synodalschreibens "Amoris laetitia". Eine gute Partnerschaft und Ehe zu führen, ist eine Herausforderung. Wir möchten als Kirche zukünftig in die Ehevorbereitung und in die Begleitung von Eheleuten noch stärker investieren.
Lässt sich der Schaden, der durch den vatikanischen Text entstanden ist, wiedergutmachen?
Hundertprozentig muss Vertrauen wieder aufgebaut werden, da ist vieles zerbrochen und beschädigt worden. In den Pfarren und vielen kirchlichen Einrichtungen passiert doch so viel an wertvoller Seelsorge, sozialer Hilfestellung und Lebensbegleitung. In der öffentlichen Meinung wird das leider nur selten wahrgenommen. Aber alle, die eine persönliche Seelsorge vor Ort erleben, haben ohnehin ein anderes Bild von der Kirche.
Hat da der Papst gesprochen oder - überspitzt formuliert - ein paar alte, verbohrte Kardinäle?
Ich traue mich nicht zu spekulieren, ob der Papst da eingespannt wurde. Mit Sicherheit braucht es einen Lernprozess innerhalb der Kirche, wie mit Homosexualität insgesamt respektvoll umzugehen ist, vor allem mit der Begleitung schwuler Paare. Viele Bischöfe - auch ich - haben angemeldet, dass in so sensiblen Fragen eine wesentlich intensivere Einbindung der Ortskirchen nötig ist. Ich weiß, dass es die Intention von Papst Franziskus ist, niemanden auszugrenzen. Dafür gibt es unzählige Beispiele. Allein seine Irak-Reise Anfang März war ein welthistorisches Ereignis, eine echte Friedensmission, ein berührendes Plädoyer für uneingeschränkte Geschwisterlichkeit - und dann kommt so etwas. Wirklich schade. Vielleicht gelingt es uns, die verständliche Aufregung wieder herauszunehmen und Themen neu zu bewerten.
Viele sind zunehmend enttäuscht vom Papst, weil sie sich mehr Reformen und Modernisierung erwartet hätten. War das womöglich projiziertes Wunschdenken?
Ich glaube, dass er sein Amt sehr klug anlegt, auch sein Führungsstil mit sehr vielen symbolischen Gesten beeindruckt mich. Es geht ihm nicht um eine oberflächliche Modernisierung. In vielen Fällen mutet er uns offene Fragen zu, auch wenn wir es anders gewohnt sind. Franziskus will eine Kirche, die die Menschen begleitet, sich sogar "verbeulen" lässt, wie er sagt - eine Kirche, die bereit ist zu lernen. Im bereits erwähnten Familiendokument spricht er von den drei notwendigen Schritten: begleiten, unterscheiden helfen und integrieren, also aufnehmen in die Gemeinschaft. Der Papst liefert nicht sofort Antworten, aber er bringt Prozesse in Gang, verändert Haltungen. Die katholische Kirche ist eine riesige internationale Gemeinschaft, da passieren Klärungs- und Reifungsprozesse halt sehr langsam. In den vielen Ländern, wo Kirche in das gesellschaftliche Leben involviert ist, gibt es enorme kulturelle Unterschiede. Ich glaube, dieser Papst ist ein Geschenk für die ganze Welt, nicht nur für die katholische Kirche.
In Deutschland ist mit dem Thema Missbrauch ein weiterer Skandal hochgekocht, Bischöfe sind zurückgetreten. Wird das auch auf Österreich überschwappen?
Ich glaube nicht. Wir haben unsere Hausaufgaben gut gemacht. Es war enorm wichtig, eine Opferschutzkommission für Betroffene von Missbrauch und Gewalt einzurichten, die tatsächlich unabhängig von der Kirche agiert. Die Aufarbeitung aller gemeldeten Fälle ist gründlich passiert. Dass man in den 1970ern und 1980ern mit sexualisierter Gewalt anders umgegangen ist als heute, ist ein Faktum. Man hat damals wirklich gedacht, es genüge, solche Sachen intern zu regeln, und mit einer Abmahnung und Versetzung sei es erledigt - das war nicht nur in der Kirche so. Damals haben nahezu alle gesellschaftlich und politisch Verantwortliche ebenso reagiert. In jeder Diözese gibt es seit einigen Jahren unabhängige Ombudsstellen und anspruchsvolle Präventivmaßnahmen.
Sie sind auch Künstler. Was gibt Ihnen die Kunst?
Sie stärkt, tröstet, verdichtet einige Fragestellungen. Für mich ist es mehr als ein bisschen Freizeitbeschäftigung. Zuletzt habe ich eine Fotoserie von einem Gräberfeld auf Lesbos gemacht, die in einer Galerie in Innsbruck ausgestellt wurde. Noch wichtiger ist mir das Vermitteln, also zeitgenössischer Kunst in der Kirche wieder Heimatrecht zu geben. Viele starke Initiativen tragen dies in Österreich mit - das Kulturzentrum bei den Minoriten in Graz, das neu aufgestellte Wiener Dommuseum und beispielhaft die Diözese Linz, um nur einige zu nennen. Es kann zu einer gegenseitigen Befruchtung kommen.
Sie haben Lesbos angesprochen. Auch zur Asylpolitik haben Sie klare Worte gefunden. Wie christlich-sozial ist die ÖVP aus Ihrer Sicht?
Die Frage ist, ob man diese Etikette einer bestimmten Partei zu- oder absprechen muss. Es gibt in allen politischen Lagern Handlungen und Haltungen, die vermutlich dem entsprechen oder nicht entsprechen. Christlich-sozial heißt auf jeden Fall, über nationale Interessen hinauszuschauen, Hilfsbereitschaft von Menschen zu stärken und nicht abzuwürgen. Auf den griechischen Inseln beobachten wir aktuell eine gezielte Abschreckungspolitik. Ein menschenunwürdiges Spiel mit dem Schicksal von Geflüchteten. Da ist ganz Europa gefragt. Es stimmt, Österreich steht bei der Flüchtlingsaufnahme im europäischen Vergleich nicht so schlecht da, aber die Kälte, mit der eine humanitäre Soforthilfe, also eine Evakuierung der griechischen Flüchtlingslager, verweigert wird, ist schon sehr irritierend.
Sie haben auch das VfGH-Urteil zum assistierten Suizid kritisiert.
Es besteht nun tatsächlich die Gefahr, dass der Suizid in unserer Gesellschaft als "gute Option" salonfähig wird. Ebenso hat mich gestört, dass jüngst die beiden Petitionen "Fakten helfen" und "Fairändern" einfach nur zur Kenntnis genommen wurden, mehr nicht. Es geht um die begleitenden Maßnahmen zu den Schwangerschaftsabbrüchen. Hat man da Angst vor Fakten und Zahlen?
Haben sie einen Osterwunsch?
Ich wünsche mir einen österlichen Geist, viel Mut und Zuversicht angesichts der vielen Herausforderungen. Ich bitte Gott um diesen Geist. Ostern kann unseren persönlichen Glauben stärken. Wir feiern ja Jesu Auferstehung - ein echter Trost, eine Aufstehhilfe in vielen Belangen.