Der Präsident des International Peace Institute, Terje Rød-Larsen, sieht gefährliche Parallelen zwischen damals und heute.
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"Wiener Zeitung": Das Gedenkjahr zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs neigt sich dem Ende zu. Dieses Gedenkjahr brachte der Welt einige Krisenherde, mit denen nur die wenigsten rechneten. Können wir in dieser Situation aus der Geschichte lernen?Terje Rød-Larsen: Ich denke, dass besonders die Phase vor August 1914, als der Sturm stärker wurde und schließlich Blitz und Donner ausbrachen, eine Lehrstunde für unsere Zeit ist. Denn es gibt auffällige Parallelen zwischen 1914 und 2014. 1914 gab es zum Beispiel zwei riesige Imperien. Das Osmanische Reich bröckelte bereits, das Österreichisch-Ungarische Imperium drohte zu zerbröckeln. Es gab also eine Leere, in die Akteure dieser zwei Imperien vorstießen. Heute gibt es die Wahrnehmung, dass die USA zwar nicht zerbröckeln, aber sich von ihrer Rolle als Weltpolizist zurückziehen. Das bietet nun plötzlich allen möglichen nicht-staatlichen Akteuren und Staaten Raum. Ähnliches ist auf regionaler Ebene im Nahen Osten zu beobachten. Ägypten, eigentlich der natürliche Hegemon der Arabischen Welt, ist aufgrund der seit einigen Jahren andauernden turbulenten Situation im Land nach innen gewandt. Das hat eine regionale Leere erzeugt. In diesem Sinn gibt es einige Lektionen von 1914 für 2014.
Sehen Sie sonst noch Parallelen zwischen den beiden Jahren?
Die technologische Revolution, die in den Jahren vor 1914 und während des Krieges stattfand. Es gab damals eine ganze Reihe von wichtigen Erfindungen: das Telefon, das Auto, Flugzeuge. Das änderte nicht nur den Alltag der Menschen, sondern auch die Kriegsführung. Davor waren Wehranlagen wichtige Bestandteile der damaligen Verteidigungssysteme. Die neuen Waffentechniken machten solche Wehranlagen, die schon seit der Erfindung der Kanone zusehends an Bedeutung eingebüßt hatten, völlig überflüssig. Heute gibt es ebenfalls einen Wandel in militärischer Taktik, denken Sie nur an Drohnensysteme. Das Unheimlichste ist, dass im Juli 1914 nur sehr wenige glaubten, dass es Krieg geben wird, und niemand glaubte, dass es ein Weltkrieg sein wird. Als der Krieg losbrach, glaubten alle an einen kurzen Krieg mit einem schnellen Ende. Es gab einen tragischen, aber eher kleinen Auslöser: die Schüsse von Sarajevo. Manche Historiker sagen, hätte es diese Schüsse nicht gegeben, dann hätte eben etwas anderes den Krieg ausgelöst. Die Lehre daraus: Überreaktionen auf Ereignisse sind immer dann möglich, wenn die Spannungen stark sind und das politische Klima emotional aufgeladen ist. Ich glaube also, dass wir in einer sehr gefährlichen Situation sind. Was aber nicht heißt, dass die Lage in der Ukraine oder im Nahen Osten unkontrollierbar geworden ist. Was wir aber bräuchten, wäre ein politisches Führungspersonal, das die Lage kontrollieren kann.
Was fehlt den Machteliten von heute?
Führungskraft, Leadership. Lassen Sie es mich so erklären: Otto von Bismarck schaffte es, ein politisches Gleichgewicht herzustellen. Er sah, dass Allianzen geschmiedet wurden, die Deutschlands Macht Einhalt gebieten würden, sollte Deutschland zu expansionistisch werden. Kaiser Wilhelm fehlte diese Einsicht. Diese zwei Modelle gibt es: Otto von Bismarck - sein Geburtstag jährt sich im kommenden Jahr übrigens zum 150. Mal - und Kaiser Wilhelm.
Was lehrt dieser Bismarck-Kaiser-Wilhelm-Vergleich heute?
Russlands Präsident Wladimir Putin muss sich entscheiden: Will er Bismarck sein oder Kaiser Wilhelm sein? Das ist die Kernfrage unserer Zeit. Wird er die Situation in der Ukraine weiter eskalieren lassen oder schafft es Putin, ein Gleichgewicht mit den westlichen Mächten, der EU und der ukrainischen Führung herzustellen?
Russland ist keine ökonomische Großmacht mehr und hat auch andere Probleme, etwa eine schrumpfende Bevölkerung.
Die Sache ist uneindeutig, Vorhersagen sind schwierig. Nach den Umbrüchen von 1989 und dem Ende der Sowjetunion 1991 und den turbulenten Jahren unter Präsident Boris Jelzin machte Russland unter Putin in gewisser Weise einen Wieder-Aufstieg durch. Die russische Wirtschaft steckt nun aber in enormen Schwierigkeiten. Bemerkenswert ist, dass die Beliebtheit von Wladimir Putin nach der Okkupation der Krim auf einem Höhepunkt war. Geht es von nun an bergab? Das ist die Frage.
Könnte eine Neuauflage des Wiener Kongresses, der von 1814 bis 1815 dauerte, in ähnlicher Form in dieser Situation eine Hilfe sein?
Es gibt einen fundamentalen Unterschied. Der Wiener Kongress fand nach dem Fall von Napoleons Reich statt. Die Sieger ergriffen die Initiative, um eine neue Weltordnung zu schaffen. Wenn sich die Dinge heute schlecht entwickeln, sind wir nicht im Jahr 1918, sondern wir stehen im Jahr 1913 - ein Jahr vor dem Krieg -, wenn Sie vom schlechtesten Fall ausgehen. So eine Neuordnung findet in der Regel nach einem Krieg oder nach schlimmen Wirren statt. Damit will ich aber keineswegs einen Dritten Weltkrieg vorhersagen!
Sie haben schon von Führungskräften und Leadership gesprochen. Sehen Sie aktuell Führungskräfte, die den Frieden suchen?
Die Europäische Union ist wahrscheinlich die maßgeblichste Institution, um Frieden in Europa zu schaffen. Mit all ihren Mitgliedsländern und deren unterschiedlicher Sichtweise ist es aber sehr schwierig, Konsens zu erreichen. Einige europäische Politiker, etwa Angela Merkel, haben beachtliche Führungskraft bewiesen. Aber die EU ist nicht ein Land. Ex-Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen sagte kurz vor seinem Abschied, dass Europa wieder aufrüsten müsse. Dass es diese Art von Aufrufen gibt, sagt viel über unsere Zeit aus. Ein Wettrüsten birgt in sich schon Gefahr. Fehlentscheidungen können wir uns auf keiner Seite leisten. Genau deshalb brauchen wir weise Führungskräfte mit Weitblick.
Zur Person
Terje Rød-Larsen
ist seit 2005 Präsident des International Peace Institute mit Sitz in Wien, New York und Manama, Bahrain. Rød-Larsen war Motor einer Reihe von Vermittlungsmissionen, vor allem im Nahen Osten zwischen Israel und der PLO.