Forscher untersuchen, wie sanfte Berührungen und Zärtlichkeiten Gefühle auslösen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Liverpool/Wien. "Wenn er mich berührt, fühle ich mich wie elektrisiert." Sanfte, zärtliche Streicheleinheiten können zu großen Emotionen verführen oder süchtig machen, aber auch Vertrauen schaffen, Sicherheit vermitteln und die Seele öffnen. Studien haben auch gezeigt, dass Männer sich risikoreicher verhalten, nachdem ihnen eine Frau auf die Schulter geklopft hat. Die US-Forscher der Universitäten von Columbia und Alberta führen dies darauf zurück, dass Mütter ihren Buben durch Berührungen im Kindesalter Sicherheit vermitteln und die Wirkung bis ins Erwachsenenalter anhält.
Britische Wissenschafter berichten nun von einem System feiner Nerven in der Haut, das für die Weiterleitung von Streicheleinheiten zuständig ist. Die Forscher der Liverpool John Moores University beschreiben im Fachjournal "Neuron" ein Nervennetzwerk aus sogenannten c-taktilen (CT) Sinnesneuronen, das die sanften Berührungen zum somatosensorischen Cortex transportiert. Diese Hirnregion ist für die Verarbeitung haptischer Wahrnehmung zuständig.
Studien zum Tastsinn untersuchten bisher zumeist funktionale Prozesse der motorischen Kontrolle. Wer etwa eine Gabel aus der Lade nimmt, den befallen dabei normalerweise keine Gefühle, sondern er will die richtige Gabel ertasten und diese ergreifen. Hier ist Haptik rational auf unterscheiden, entscheiden und handeln ausgerichtet. Sinneszellen, die mechanische Kräfte in Nervenregungen verwandeln, sind dafür zuständig.
Das nun erstmals im Detail untersuchte CT-System in der Haut hat hingegen einen anderen Job. Es ist artgleich mit dem Neuronensystem für die Empfindung von Schmerz, erfüllt aber die gegenteilige Funktion: Die CT-Sinnesneuronen registrieren Ereignisse, die weder bedrohlich noch zerstörerisch sind, sondern als lohnend und angenehm empfunden werden - also zärtliche Berührungen aller Art, ein vertrauensvolles Schulterklopfen oder aber auch Entspannungsmassagen.
Die Forscher um Studienleiter Francis McGlone baten Testpersonen, sich unter einen Apparat zu legen, der ihren Körper an unterschiedlichen Stellen kurz streichelte. Die Probanden mussten auf einer Skala bewerten, ob und wie angenehm die streichelnde Berührung war. Gleichzeitig wurden die Gehirnströme gemessen. Da die Berührungen an verschiedenen Stellen unterschiedlich angenehm empfunden wurden, postulieren die Forscher eine ungleiche Verteilung der Sinnesneuronen.
Studien an Affen haben gezeigt, dass die Primaten mehr Zeit für die gegenseitige Fellpflege aufwenden, als die Hygiene erfordert, was nahelegt, dass sie auch eine gesellschaftliche Funktion hat, indem sie der Festigung von Beziehungen dient. Während der Fellpflege steigt die Produktion von körpereigenen Endorphinen, die als natürliche Opiate gelten.
"Die evolutionäre Bedeutung der CT-Sinnesneuronen ist nur zum Teil entschlüsselt. Wir gehen aber davon aus, dass sie eine Rolle spielen in der Entwicklung des Menschen als soziale Art, und dass sie genau so überlebenswichtig sind wie jene Nerven, die vor Schmerz schützen", betonen McGlone und seine Kollegen. Jüngste Forschungsergebnisse hätten außerdem gezeigt, dass Menschen, die an Autismus leiden, anders auf gefühlsbetonte Berührungen reagieren. "Wenn das CT-System in der neuronalen Entwicklung versagt, könnte dies sich also negativ auf das soziale Gehirn und die Selbstwahrnehmung auswirken", so McGlone.
Manche autistische Patienten bringt sogar das Gefühl von zarter Kleidung auf der Haut in Bedrängnis. Die US-Aktivistin, Autistin und Tierforscherin Temple Gradin bringt ihren eigenen Mangel an Mitgefühl in gesellschaftlichen Situationen mit zu wenig "tröstlichem taktilem Input" im frühen Kindheitsalter in Verbindung. Generell könne sich ein solcher negativ auf eine Reihe von psychologisch gesteuerten Verhaltensweisen und Zuständen im späteren Leben auswirken.
Weitere Studien zum CT-System könnten neue Therapien für autistische Personen bringen. Ein besseres Verständnis des Zusammenspiels der neuronalen Systeme für Schmerz- und Genussempfinden könnte auch zu neuen Schmerztherapien führen.