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Vor einem Jahr, am französischen Nationalfeiertag, raste ein Attentäter in eine Menschenmenge in Nizza.
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Nizza. Die ersten Wochen, ja Monate nach diesem verheerenden 14. Juli 2016 nahm Brigitte jeden Umweg auf sich, um die Strandpromenade von Nizza, die Promenade des Anglais, zu umfahren. "Dabei ist das eine der zentralen Achsen der Stadt, wo jeder ständig unterwegs ist. Oder war." Aber die 62-Jährige, die seit mehr als 30 Jahren in der Mittelmeer-Metropole lebt, vermied es, jenen kleinen Platz am Rande der Straße zu sehen, wo Menschen immer wieder frische Blumen und Kerzen, Gedichte und Plüschtiere ablegten. Keinesfalls wollte sie so unmittelbar an das Grauen erinnert werden, das sich am Abend des französischen Nationalfeiertags an diesem so paradiesischen, so mondänen Ort abgespielt hat, wo Palmenblätter vor dem azurblauen Meer im Wind wehen.
Keine direkte IS-Verbindung
Der Tunesier Mohamed Lahouaiej-Bouhlel, der seit einigen Jahren in Nizza lebte, hatte einen geliehenen, 19 Tonnen schweren Lastwagen auf die Flaniermeile am Meer gelenkt, die an dem Abend für den Verkehr gesperrt war. Rund 30.000 Menschen tummelten sich hier, um das traditionelle Feuerwerk zu bestaunen. Während am Himmel noch farbige Lichter sprühten, raste der Attentäter in hoher Geschwindigkeit in die Menge und fuhr knapp zwei Kilometer die Straße entlang. Er überfuhr absichtlich die Menschen, die in Panik versuchten wegzulaufen. Schließlich lieferte er sich ein Schussgefecht mit Polizisten, bei dem diese Lahouaiej-Bouhlel erschießen und damit seine mörderische Fahrt stoppen konnten. In der Fahrerkabine fand man eine Pistole, noch unbenutzte Patronen und Gewehr-Attrappen.
Die Terrororganisation "Islamischer Staat" bekannte sich zu dem Attentat. Der Täter war den Behörden nicht als religiöser Fanatiker aufgefallen, wohl aber wegen Gewalttaten, unter anderem gegen seine von ihm getrennte Frau, mit der er drei Kinder hatte. Auswertungen seines Computers und seiner Handys ergaben später, dass Lahouaiej-Bouhlel sich zwar für dschihadistische Thesen interessiert hatte, eine direkte Verbindung zu Terror-Organisationen oder gar ein konkreter Auftrag zu der Wahnsinnstat wurden aber nicht gefunden.
Kinder zeichnen Gewaltszenen
Die Bilanz seiner Tat ist verheerend. 86 Menschen verloren ihr Leben, darunter einige Kinder. Die Zahl der Verwundeten belief sich auf mehr als 400. Die der Traumatisierten liegt noch weitaus darüber - die ganze Stadt war verwundet. "Nizza ist klein", sagt Brigitte, die selbst an besagtem Abend, anders als die Jahre zuvor, nicht an der Promenade war. "Jeder kennt Leute, die das Drama getroffen hat. Es wurden ja ganze Familien ausgelöscht."
Die körperlichen Verletzten seien inzwischen zumeist genesen, berichtet der Krankenhaus-Chirurg Pascal Boileau. Zwischen zehn und 20 Personen müssten immer noch Reha-Maßnahmen machen. "Aber viele brauchen weiter psychologische Hilfe. Die Nachwirkungen sind sehr stark." Kinder seien besonders stark betroffen, so Florence Askenazy, Chefin der Kinderpsychiatrie in einem Krankenhaus der Stadt: "Oft zeichnen sie Gewaltszenen, bei denen man verletzte Personen sieht, Pistolen, Feuerwerke mit Menschen, die auf dem Boden liegen oder schwarze Figuren auf der Promenade. Ich habe einen kleinen Buben in Behandlung, der in einem Jahr nicht einen einzigen Zentimeter gewachsen ist." Gelitten hat zunächst auch der Tourismus in der Stadt an der Côte d’Azur. Brach er in den Monaten nach dem Attentat, von dem auch viele Ausländer betroffen waren, massiv ein, zog er in diesem Jahr aber wieder an und normalisierte sich zuletzt.
Wenn sich die Horror-Nacht am Freitag zum ersten Mal jährt, fällt das übliche Feuerwerk aus. Stattdessen findet an der Promenade eine Zeremonie für die Opfer statt. "Dieser 14. Juli muss ein Moment des Gedenkens sein", erklärte Bürgermeister Christian Estrosi. Er hat neben Präsident Emmanuel Macron auch dessen Vorgänger François Hollande und Nicolas Sarkozy eingeladen.
Tatfotos in Illustrierter
Es ist eine Geste der Versöhnung, während es nach dem Anschlag Schuldzuweisungen zwischen der konservativ regierten Region und der sozialistischen Regierung in Paris gab: Wie konnte der Täter mit seinem Laster an den Absperrungen vorbei auf die Promenade gelangen? Warum fielen niemandem seine vorhergehenden Erkundungsfahrten in der Nähe auf, wo ein Gefährt dieser Größe gar nicht hätte fahren dürfen? Waren überhaupt genügend Polizei- und Sicherheitskräfte im Einsatz? Immerhin galt bereits der Ausnahmezustand in Frankreich - und auch weiterhin. Das Land lebt mit der ständigen Gefahr und mit der bitteren Erinnerung.
Das zeigt auch die Kontroverse um Fotos der Tat in der aktuellen Ausgabe der Illustrierten "Paris Match". Zu sehen sind Standbilder aus Aufnahmen von Videoüberwachungskameras. Die Pariser Staatsanwaltschaft forderte, die Ausgabe wegen Verletzung der Menschenwürde aus dem Verkauf zu nehmen. Die Illustrierte kontert, die Bilder seien aus der Ferne aufgenommen, "ohne mögliche Identifizierung der Opfer oder Verletzung ihrer Würde".
Normalität Ausnahmezustand
Während die Bilder von "Paris Match" für Aufregung sorgen, regt der Ausnahmezustand in Frankreich nur wenige auf. Ausgerufen nach der Anschlagsserie in Paris im November 2015, verlängerte ihn das Parlament seither inzwischen sechsmal auf Vorschlag der jeweiligen Regierung. Die Kritik von Menschenrechtsorganisationen, die vor unverhältnismäßiger Einschränkung warnen, wird weitgehend überhört. Zu groß ist die Angst vor dem Vorwurf der Nachlässigkeit im Fall neuer Attacken - die niemand ausschließen kann.
Bis zum Herbst will die Regierung bisherige Regeln des Ausnahmezustands in ein neues Anti-Terror-Gesetz einarbeiten, das den Sicherheitsbehörden dauerhaft deutlich mehr Befugnisse einräumt. So sollen Ermittler künftig auch ohne richterliche Erlaubnis Wohnungen durchsuchen und Computermaterial beschlagnahmen dürfen; sie können dann Hausarrest gegen potenzielle Gefährder verhängen, verdächtige Moscheen und Gebetsräume vorübergehend schließen und bei Großveranstaltungen Sicherheitszonen einrichten.
Die Profile bisheriger Attentäter zeigten, dass es sich oft um gescheiterte Existenzen handelte, um Kleinkriminelle, die nie ihren Platz fanden, oft in den Randzonen der Städte aufwuchsen, die seit langem zu den großen, ungelösten Problemen Frankreichs zählen. Deradikalisierungsprogramme für diese Gruppen wirken nur langfristig - im Gegensatz zu Patrouillen, die umgehend aufgestellt werden können.