Justiz ermittelt wegen gezielter Arzneimittelverknappung.
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Athen. Ob Personalnot, lange Wartezeiten für Untersuchungen und Operationstermine oder defekte Rettungswägen: Griechenlands öffentliches Gesundheitssystem sah sich schon vor dem Ausbruch der Krise mit vielen Problemen konfrontiert. Doch der aktuelle Medikamentenmangel stellt alle anderen Missstände in den Schatten.
Der Vorwurf wird schon seit geraumer Zeit vorgebracht. Nun ist die Frage, ob ein künstlich erzeugter Medikamentenmangel in Griechenland herrscht, sogar ein Fall für die einheimische Justiz. Übereinstimmenden Medienberichten zufolge hat Griechenlands oberster Staatsanwalt Jannis Tentes landesweit alle Staatsanwaltschaften an den Berufungsgerichten damit beauftragt, entsprechende Ermittlungen einzuleiten. Konkret solle die Justiz untersuchen, ob der Straftatbestand der "unlauteren Verweigerung der Bereitstellung von Medikamenten zu Lasten Kranker" vorliege.
Dem Schritt von Tentes war eine parlamentarische Anfrage des Abgeordneten Panagiotis Kouroumblis vom "Bündnis der Radikalen Linken" (Syriza) vorausgegangen. Kouroumblis wollte, dass die mögliche Verantwortung der Pharmahersteller für den Medikamentenmangel unter die Lupe genommen wird.
Beobachtern zufolge resultiert der Mangel vornehmlich aus der chronischen Unterfinanzierung der Nationalen Gesundheitskasse EOPYY. Bis zum Jahresende wird die Kasse, die mit knapp zehn Millionen Versicherungsnehmern fast alle Griechen zu versorgen hat, Außenstände in Höhe von rund zwei Milliarden Euro angehäuft haben. Grund dafür sind die im Zuge der fortgesetzten Wirtschaftsrezession drastisch sinkenden Einnahmen. Zehntausende Firmenschließungen, die grassierende Arbeitslosigkeit, Schwarzarbeit und die ausufernde Beitragshinterziehung lassen weniger Geld in die EOPYY-Kassen fließen. Überdies reduziert der klamme griechische Staat deren Finanzierung.
Zudem strebt die Athener Regierung - im Einklang mit der Geldgeber-Troika aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds - die drastische Senkung der öffentlichen Gesundheitsausgaben an. Betrugen 2009 die öffentlichen Gesundheitsausgaben noch 14 Milliarden Euro, werden sie im laufenden Jahr auf geschätzte 9,5 Milliarden Euro gefallen sein.
Heftiger Streit um Parallelimporte
Ziel von Athen ist es, insbesondere die in den Boomjahren ausufernden Medikamentenausgaben stark zu reduzieren. Das von der Regierung geschnürte Maßnahmenpaket sieht unter anderem die Kontrolle der Menge der verabreichten Medikamente, die Festsetzung niedrigerer Medikamentenpreise, die vermehrte Verabreichung von billigeren Generika sowie die Reduzierung der Gewinnmargen für Pharmagroßhändler und Apotheken vor.
Der rigorose Sparkurs trifft geradezu alle Akteure auf dem griechischen Medikamentenmarkt. Nun herrscht ein Hauen und Stechen. Die internationalen Pharmaproduzenten hätten ihre Lieferungen zuletzt stark eingeschränkt, monieren Vertreter der landesweit rund 135 Medikamenten-Großhändler. Letztere geben indes unumwunden zu, nur noch mit - legalen - Parallelimporten Geld verdienen zu können. Dabei importieren sie Medikamente und exportieren sie dann zu höheren Preisen in andere EU-Länder.
Die Parallelimporte haben inzwischen Griechenlands Nationale Medikamenten-Behörde EOF auf den Plan gerufen. Ihr am 28. November getroffener Beschluss, wonach die Parallelimporte dutzender Medikamente vorläufig unterbunden werden, um "die Versorgung auf dem heimischen Markt zu gewährleisten", hob EOF zwar teilweise auf. Bei 21 Medikamenten bleibt laut EOF das Parallelimport-Verbot aber noch bestehen.
Die EOF stellt auf Basis der von den einheimischen Apothekervereinigungen gemeldeten Angaben in Griechenland derzeit einen Mangel von rund 300 Präparaten in verschiedenen Verabreichungsformen und Dosen fest. Gegen 13 Pharmahersteller sind der EOF zufolge unterdessen wegen "verminderter Bereitstellung von Medikamenten" die vom griechischen Gesetz vorgesehenen Verfahren zur Verhängung von Strafen eingeleitet worden.
Derweil haben die Proteste der landesweit rund 12.000 Apotheker im Laufe dieses Jahres ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. In vorher angekündigten Protestaktionen verweigern sie ihren Kunden die Bereitstellung von rezeptpflichtigen Medikamenten auf Kredit. Der Grund: Offene Zahlungen von EOPYY in Millionen-Höhe.
"Niemand stirbt an Medikamentenmangel"
Überdies gingen Mitte November die Ärzte auf die Barrikaden. Die mächtige Athener Ärztevereinigung (ISA) rief Griechenlands oberstes Verwaltungsgericht an. Ihre Klage richtet sich gegen den jüngsten Beschluss des Gesundheitsministeriums, wonach die Ärzte einen Wirkstoff nur ohne Angabe des Produktnamens verschreiben dürfen. Laut ISA führt dies dazu, dass der Patient in Hellas die billigsten auf dem Markt verfügbaren Medikamente erhält. Denn sei ein bestimmtes Medikament nicht verfügbar, sei der Apotheker dazu verpflichtet, den Patienten auf das billigste Medikament mit dem selben Wirkstoff hinzuweisen. Wolle der Versicherte indes das teurere Medikament, müsse er die Preisdifferenz zum günstigeren Medikament aus der eigenen Tasche berappen.
Dem augenblicklichen Wirrwarr auf dem hellenischen Medikamentenmarkt zum Trotz bemühte sich Gesundheitsminister Andreas Lykourentzos, die erhitzten Gemüter zu beruhigen. In einem Radiointerview versicherte der studierte Politikwissenschafter mit beißender Ironie: "Keiner wird an dem Medikamentenmangel sterben."