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Blick in eine radikale Welt

Von Patrick Krammer und Vilja Schiretz

Politik

Warum sich Menschen radikalisieren - und wie der Weg zurück aussehen kann.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Lange müssen die sechs Angeklagten nicht mehr warten, bis sie erfahren, ob und wie lange sie ins Gefängnis kommen. Im Terrorprozess von Wien wird kommende Woche ein Urteil erwartet. Den Angeklagten zwischen 22 und 32 Jahren wird vorgeworfen, sie hätten dem Attentäter K.F., der am 2. November 2020 in der Wiener Innenstadt vier Menschen erschossen und 22 weitere verletzt hat, bei seinen Planungen geholfen und ihn zur Tat ermutigt. Sie sind unter anderem wegen Mordes und Verbrechen einer terroristischen Organisation angeklagt.

Das Verfahren am Wiener Landesgericht für Strafsachen bot Beobachtern einen Blick in eine Welt, in der radikale islamistische Weltanschauungen geradezu normal erscheinen. An dieser Stelle gleich der Hinweis: In Österreich sind radikale Anschauungen nicht strafbar, sie müssen klar von extremistischen Einstellungen getrennt werden. Der Unterschied zwischen radikalen und extremistischen Überzeugungen ist die Bereitschaft zu Gewalt. Wie viele Personen den Schritt von einer radikalen Einstellung zu gewaltbereitem Extremismus gehen, ist nicht zu beziffern.

In Chats diskutierten die Angeklagten über fundamentalistische Texte. In Moscheen, die nun teilweise geschlossen sind, traf man sich mit radikalen Predigern. Prozessakte und Berichte des Verfassungsschutzes zeichnen ein Bild, das über die sechs Angeklagten hinaus geht. Im Zusammenhang mit dem Anschlag wurde gegen andere Personen ermittelt, die teilweise schon vor Gericht standen.

Zwei Angeklagte wegen Terrordelikten in Haft

Ein Großteil jener Männer, die nun in Wien vor Gericht stehen, kannten einander bereits vor dem Anschlag. Zum Teil seien sie Jugendfreunde gewesen, spielten im 23. Bezirk gemeinsam Fußball, erzählten sie den Richtern. Ihre Biografien sind dennoch unterschiedlich. Während der Erstangeklagte als Kind mit seiner Familie aus Tschetschenien floh, sind vier weitere Angeklagte bereits in Österreich geboren und auch österreichische Staatsbürger. Manche von ihnen sind unbescholten, haben vor ihrer Inhaftierung gearbeitet oder können zumindest eine abgeschlossene Ausbildung vorweisen. Zwei waren wiederum schon früher wegen Terrordelikten in Haft, der Viertangeklagte wegen Delikten wie Körperverletzung, Nötigung und Raub bereits fünfmal vorbestraft.

Einen Mitarbeiter des Deradikalisierungs-Vereins Derad, der anonym bleiben möchte, überrascht das nicht. Ganz unterschiedlich seien die Menschen, mit denen der Verein zu tun habe: "Vom Geflüchteten bis zum autochthonen Österreicher aus gutbürgerlichem Hause."

Was die Angeklagten eint, ist, dass sie sich offenbar irgendwann radikal-islamistischen Ideologien zugewandt haben. Nur der Fünftangeklagte gab an, in der Vergangenheit nie mit dem IS sympathisiert zu haben. Er beschrieb sich selbst als nicht streng religiös, würde nur gelegentlich Moscheen aufsuchen. Andere sagten hingegen aus, in der Vergangenheit durchaus radikale Ansichten vertreten und etwa Propagandavideos verbreitet zu haben.

Heute wollen aber alle Angeklagten ihre IS-Sympathie hinter sich gelassen haben. Als "normal bis konservativ" beschrieb etwa der Viertangeklagte - dem LVT seit 2014 als Mitglied der radikal-islamistischen Szene bekannt - bei seiner Einvernahme seine Einstellung zur Religion.

Jugendliche für radikale Ideologien anfällig

Anfällig für radikale Ideologien werden Menschen häufig, wenn sie in einer persönlichen Krise stecken und das Gefühl haben, es fehle etwas in ihrem Leben. Wie Stefano Falchetto, Extremismusexperte und Sozialarbeiter im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" betont, muss kein großes Trauma, keine schwere psychische Krankheit dahinterstecken. Auch die Trennung der Eltern oder Perspektivenlosigkeit nach der Schule können genügen. Jugendliche sind dabei besonders anfällig, ist die Pubertät doch naturgemäß eine Phase der Selbstfindung, des Hinterfragens und der Abgrenzung von den Eltern. Aber auch Erwachsene in Krisensituationen können durchaus empfänglich sein. Anhänger rechtsradikaler Verschwörungstheorien und der Staatsverweigererszene seien laut der Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN) vorwiegend mittleren Alters.

Extremistische Gruppen vermitteln in einer Zeit der Unsicherheit ein Gefühl der Zugehörigkeit und des gemeinsamen Kampfes "für eine große Sache", erklärt Falchetto. Die Anwerber zeigen vermeintliche Ungerechtigkeiten auf und schüren Hoffnungen.

Die Radikalisierung kann dabei sowohl über das Internet als auch im "echten Leben" erfolgen. Über soziale Netzwerke könne jeder "seinen" radikalen Prediger finden, auch ohne physisch in eine Moschee zu gehen, heißt es von der DSN. Außerdem ist ein schneller Austausch von Propaganda, auch über Ländergrenzen hinweg, möglich. Deshalb sei Radikalisierung online "gleich gefährlich wie im echten Leben". Bei Derad habe man eher die Erfahrung gemacht, dass persönliche Kontakte entscheidend seien.

Die Muster seien weitgehend die gleichen, unabhängig davon, ob es um Links- und Rechtsextremismus, Verschwörungserzählungen oder eben islamistischen Extremismus geht. Religionen und Weltanschauungen sind dabei nebensächlich, es komme auch vor, dass rechtsextreme Personen zu einer islamistisch extremen Ideologie wechseln, heißt es aus der DSN. "Die Religion wird als Honig verwendet, um Menschen anzuziehen", sagt Falchetto. Die Mehrheit der Jugendlichen, die in den radikalen Islam abrutschen, stammen aus Familien, die eigentlich nicht streng religiös sind. Im Gegenteil: Oft sehen Jugendliche in der Hinwendung zu der radikalen Ideologie eine Form der Rebellion gegen die Werte ihrer Eltern.

Auch beim Wiener Attentäter gab es diesen Konflikt. Seine Mutter sagte in ihrer Befragung aus, dass man das Thema Religion zu meiden versuchte. Ihr Sohn habe sie selbst als Ungläubige beschimpft.

Ist jemand erst einmal in ein radikales Milieu geraten, ist der Weg zurück oft zäh. Hier kommen Vereine wie Derad ins Spiel, die Gespräche mit radikalisierten Menschen führen und versuchen, sie von extremem Gedankengut wegzuführen.

Wie das funktioniert, lässt sich kaum verallgemeinern. "Der Prozess geht weder über Nacht noch nach einem Schema", heißt es von Derad. Die Methoden müssten individuell auf jeden Betroffenen abgestimmt werden. Grundsätzlich gehe es darum, Wege zu finden, wie Betroffene Bedürfnisse auf andere Weise befriedigen können, die bisher die extreme Ideologie ausgefüllt hat. Um Resilienz gegen radikales Gedankengut aufzubauen, seien vor allem ein funktionierendes soziales Umfeld und Erfolgserlebnisse außerhalb der radikalen Gruppe entscheidend. Und: Ohne den Willen der radikalisierten Person geht sowieso nichts. Verweigert sie das Programm, können Einrichtungen nichts ändern.

Schwierig ist es auch, wenn ein Gericht eine zeitlich befristete Teilnahme an einem Deradikalisierungsprogramm anordnet: Läuft dieses aus, hat Derad keinen Zugriff mehr auf die Person. Selbst dann nicht, wenn der Prozess noch nicht abgeschlossen ist.

Prävention ist besser als Deradikalisierung

Es ist auch ein Drahtseilakt für Behörden, die einerseits auf diese Prozesse setzen, andererseits Vertrauen in die Wirkung haben müssen. Der damalige Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) meinte, dass der Attentäter die Programme perfekt getäuscht habe. Dass Deradikalisierung funktionieren kann, darüber sind sich die Experten, mit denen diese Zeitung gesprochen hat, einig.

Besser als Deradikalisierung, möglicherweise erst nachdem jemand straffällig wurde, ist freilich Prävention. Darauf hat sich Falchetto spezialisiert. Er berichtet von einer Kooperation zwischen Bildungsdirektion, der Wiener Kinder- und Jugendhilfe (MA 11) und der Polizei, bei der seit einigen Jahren versucht wird, Jugendliche, die sich in einem Prozess der Radikalisierung befinden, frühzeitig zu unterstützen, um ein weiteres Abrutschen zu verhindern. Falchetto sucht mit den Jugendlichen nach Wegen, wie sie mit ihren Einstellungen leben können, ohne Schaden anzurichten. "Ich werde einen Menschen und seine Werte nicht verändern", sagt der Sozialarbeiter. Im Mittelpunkt stehe daher eine Frage: "Wie kann man an so etwas glauben und trotzdem gut leben?"

Andere Ziele setzt sich Derad. Ein sozial adäquates Leben bedeute eben nicht, dass eine radikale Person nicht mehr radikal sei. Die geistige Überzeugung könne immerhin auch andere Personen radikalisieren und dem Extremismus näher bringen.

Wie viele Menschen in Österreich radikalisiert sind, ist kaum zu beziffern. Am Radar des Verfassungsschutzes tauchen sie erst auf, wenn sie straffällig werden oder mit bereits bekannten Extremisten verkehren. Falchetto vermutet, dass die Zahl insgesamt über die letzten Jahre weitgehend gleich geblieben ist, sich aber etwas weg vom Islamismus, mehr in Richtung links- und rechtsextremer Strömungen verlagert hat. Derad vermutet eine weitgehend konstante Zahl von Anhängern des radikalen Islams. Erst am Freitag wurde ein 17-Jähriger in Wien rechtskräftig zu einer Haftstrafe verurteilt, weil er seinen Schulkollegen IS-Propagandavideos gezeigt hatte.

Ein Blick auf die Verurteilungsstatistik beweist, dass es ab 2015 vermehrt zu Verurteilungen wegen einschlägiger Delikte gekommen ist. 2019 und 2020 gingen die Zahlen leicht zurück, stiegen aber 2021 wieder an, was auch auf die Ermittlungsverfahren rund um den Anschlag zurückzuführen sei, schreibt das Justizministerium in einem Bericht.

Die Urteile der Hauptangeklagten stehen natürlich noch aus. Sie sollen nächste Woche kommen.