Epilepsie hat mehr als 50 Varianten. Experten kritisieren "kopflose" Ausbildung.
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Wien. Es beginnt mit einer unscharfen Wahrnehmung der Umgebung begleitet von einem unangenehmen Gefühl aus der Magengegend, visuellen Halluzinationen oder Panikgefühlen. In Sekundenschnelle folgt ein Sturz und der Körper beginnt zu krampfen. Während die Betroffenen den Beginn eines epileptischen Anfalls, die Aura, in den meisten Fällen noch mitbekommen, wird der eigentliche Krampfanfall aus dem Gedächtnis gelöscht. Es folgen Desorientiertheit und Müdigkeit.
Diese wohl oder übel am meisten gefürchtetste, aber auch bekannteste Form der Epilepsie ist nur eines von vielen Bildern, wie sich diese neurologische Erkrankung präsentieren kann. Mehr als 50 verschiedene mehr oder weniger auffallende Erscheinungen gibt es. In vielen Fällen verläuft ein epileptisches Ereignis auch ohne besondere Auffälligkeiten für die Mitmenschen, berichtete Gerhard Luef von der Innsbrucker Uniklinik für Neurologie am Dienstag im Rahmen eines Pressegesprächs.
Welttag des Gehirns
Epilepsie ist genau jene Krankheit, die zum diesjährigen "Welttag des Gehirns", der am Mittwoch begangen wird, bewusst in den Mittelpunkt gerückt wird, um auf den Status Quo, aber auch auf Versorgungslücken und das Problem der Stigmatisierung aufmerksam zu machen.
"Es wird kaum jemand geben, der sagt ,Ich bin Epileptiker‘", betonte Luef. Denn die Nachteile würden sowohl das Privat- als auch das Berufsleben betreffen. Viele Patienten hätten bei Bewerbungsgesprächen Angst, ihre Krankheit kundzutun. Nach wie vor gibt es Menschen, die den Kontakt zu Anfallskranken scheuen. Der Neurologe ortet einen Nachhall aus dem Mittelalter, wo Epileptiker als "verhext" galten.
Epilepsie ist keine Seltenheit, sondern die am weitesten verbreitetste neurologische Erkrankung, betonte der Wiener Neurologe Wolfgang Grisold, Generalsekretär der World Federation of Neurology. Jeder 20. Mensch würde im Leben mindestens einen Anfall erleiden. Nicht nur die genetische Disposition, sondern auch ein veränderter Schlaf-Wach-Rhythmus, Drogenmissbrauch (auch Alkohol) oder Medikamente könnten Auslöser sein. In etwa einem Prozent der Fälle ist das Leiden wiederkehrend. In Österreich leben Experten zufolge daher bis zu 80.000 Menschen mit Epilepsie.
Rund zwei Drittel der Patienten könnten mit entsprechenden Medikamenten - Antiepileptika - anfallsfrei gehalten werden, erklärte Martha Feucht, Leiterin der Ambulanz für erweiterte Epilepsiediagnostik der Wiener Uniklinik für Kinder- und Jugendheilkunde. Aber auch chirurgische Eingriffe können zur Anfallsfreiheit führen. "In Österreich gehen wir von rund 3000 Neuerkrankungen pro Jahr aus, die vorwiegend Kinder und ältere Menschen betreffen."
Betroffene, die auf ihre Medikamente gut ansprechen, können mit wenigen Einschränkungen ein mit Gesunden vergleichbares Leben führen. Auch bestehe kein kausaler Zusammenhang zwischen der Erkrankung und der intellektuellen Leistungsfähigkeit.
Wichtige Fortschritte gab es in den vergangenen Jahren auch für Frauen mit Epilepsie und Kinderwunsch. Schwangerschaften sind kein tabu, sollten allerdings unbedingt geplant werden, empfiehlt Gerhard Luef.
Neurologie degradiert
Da sich die Diagnostik in Fällen, wo es zu keinen typischen Krampfanfällen kommt, schwierig gestaltet, würde ein großer Teil der Betroffenen nach wie vor nicht oder zu spät erkannt. Panikattacken müssten etwa nicht immer ein psychologisches, sondern könnten auch ein neurologisches Problem darstellen, erklärte Luef.
Doch um dies unterscheiden zu können, bedarf es gut ausgebildeter Neurologen. Während sich die Patienten hierzulande derzeit noch gut versorgt sehen können, warnen die Experten vor Engpässen in der Zukunft. Obwohl aufgrund der alternden Gesellschaft neurologische Erkrankungen wie Demenz, Parkinson, Schlaganfall, aber auch Epilepsie im Ansteigen begriffen sind, wurde mit der jüngsten Reform der Allgemeinmediziner-Ausbildung die Nervenheilkunde vom Pflicht- zum Wahlfach degradiert. Die Österreichische Gesellschaft für Neurologie, deren Präsident Wolfgang Grisold ist, zeigt sich besorgt über die Entwicklung hin zur "kopflosen" Turnusausbildung.
Erste Hilfe
Für den Fall, dass ein Mitmensch in der U-Bahn einen typischen epileptischen Anfall erleidet, rät Luef dazu, die Umgebung abzusichern, um Verletzungen des Krampfenden vermeiden zu können - und abzuwarten. Zumeist klingt das Ereignis glimpflich aus. Der Mediziner warnt dabei vor Überaktionismus. Der Versuch, den Patienten aus der Abwesenheit herauszuholen, könnte zu seinem Nachteil sein.
Das menschliche Gehirn besteht hauptsächlich aus Nervengewebe und steht in direkter Verbindung mit dem Rückenmark. Es verarbeitet Sinneswahrnehmungen und koordiniert Verhaltensweisen. Alle komplexen Informationen, die der Organismus verarbeitet, werden über das Gehirn gesteuert.
Doch nicht jede Information gelangt auch bis in unser Bewusstsein. Die meisten der von Rezeptoren stammenden Erregungen werden unbewusst verarbeitet. So koordiniert das Gehirn etwa vegetative Funktionen wie die Atmung oder den Herzkreislauf über dieses autonome Nervensystem.
Die Länge aller Nervenbahnen des Gehirns eines erwachsenen Menschen beträgt etwa 5,8 Millionen Kilometer. Dementsprechend hat es auch einen hohen Energiebedarf. Diese gewinnt es zu einem großen Teil aus der sauerstoffunterstützten Verbrennung von Zucker (Glucose). 20 Prozent des Grundumsatzes werden von unserem Denkorgan verbraucht - beim Säugling sind es sogar 50 Prozent.
Vernetzt sind die rund 86 Milliarden Nervenzellen (Neuronen) durch 100 Billionen Knotenpunkte (Synapsen).