Im Brüsseler EU-Viertel wollen die Menschen nach den Polizei-Razzien keine Panik aufkommen lassen.
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Brüssel. Für die Sicherheitsbeamten im Ratsgebäude ist es ein normaler Arbeitstag. In dem Haus im Brüsseler EU-Viertel am Schuman-Platz, wo die Minister sowie Staats- und Regierungschefs der Union regelmäßig ihre Treffen abhalten, müssen die Eintretenden wie auch sonst üblich ihre Taschen scannen lassen und ein Tor mit Metalldetektoren passieren. Doch etwas ist trotzdem anders an dem Tag nach den groß angelegten Anti-Terror-Razzien mit zwei Toten in der ostbelgischen Stadt Verviers. Diesmal müssen Besucher schon vor dem Gebäude ihren Ausweis herzeigen, der zum Eintritt berechtigt.
Mit der Kontrolle ist gerade Henri an der Reihe. Besorgt zeigt er sich nicht. "Wieso sollte ich jetzt mehr Angst haben?" meint er. Selbstverständlich habe er von den Polizeieinsätzen und den Schießereien gehört. Sein Sicherheitsgefühl scheint dadurch aber nicht geringer geworden zu sein. "Ich mache meinen Job, ich bin für die Sicherheit zuständig", sagt Henri. "Daran ändert sich nichts."
Sein Kollege Mark sieht das etwas anders. "Ich glaube schon, dass sich viele Menschen jetzt mehr Sorgen um ihre Geborgenheit machen." Der Anschlag auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" in Paris in der Vorwoche, nur einige Tage später die Ereignisse in Belgien - die Berichte darüber schüren Ängste, denkt Mark. "Aber was sollen wir tun? Wir müssen weiter normal leben, mit der U-Bahn oder dem Bus in die Arbeit fahren. Wir können nicht ständig Angst haben."
In dem gegenüberliegenden Gebäude sind die Schutzmaßnahmen schon vor einigen Monaten verschärft worden. Im Eingangsbereich der EU-Kommission sind zusätzliche Drehtüren eingebaut worden, durch die Besucher noch vor der Personenkontrolle drinnen einzeln durchgelassen werden. Auch gegen die Behörde soll es schon Anschlagspläne gegeben haben. Ein Attentat auf die EU-Institution wäre eines mit Symbolkraft.
Eingriff in Bürgerrechte?
"Es wäre ein Angriff auf Europa", findet Jean. Der Kommissionsbeamte hat sich für seine Mittagspause eines der umliegenden Kaffeehäuser ausgesucht. Es gehen ihm durchaus Gedanken durch den Kopf, dass das zwischen vier Straßen liegende Gebäude mit der U-Bahn-Station darunter kein schwer zu treffendes Ziel wäre. Und er ist nicht der einzige mit solchen Überlegungen. "Als ich mich mit Kollegen auf einen Kaffee getroffen habe, wollten diese nicht beim Fenster sitzen", erzählt Jean lachend.
Daran, dass zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen jedoch viel nützen, hat der Luxemburger seine Zweifel. Ähnlich wie sein Bekannter, der Schotte Paul. "Die Maßnahmen können gleichzeitig ein Eingriff in unsere Bürgerrechte sein", stellt er fest. "Wir büßen möglicherweise an Bewegungsfreiheit ein." Paul hat nicht vor, sich einschüchtern zu lassen. "Wenn wir die ganze Zeit von Angst geleitet sind, können wir nicht unser Leben, wie wir es gewöhnt sind, fortsetzen." Es könne auch nicht sein, dass bestimmte Ausländer unter Generalverdacht fallen. In Belgien aber ist der Anteil der Menschen, die aus einem anderen Land stammen, hoch. Wie ein großer Teil der Brüsseler Bevölkerung sind Jean und Paul selbst keine Brüsseler.
Nur wenige hundert Meter von den EU-Gebäuden entfernt steht die Große Moschee. Nach dem Freitagsgebet strömen die Menschen zur U-Bahn am Schuman-Platz: Männer in langen weißen Gewändern, Frauen mit Kopftuch, Grüppchen von Jugendlichen. "Die sind doch nicht gefährlich!", sagt Marie. Die Belgierin betreibt ein Blumengeschäft in der Bahnstation. Auch sie will sich nicht von Angst verrückt machen lassen. "Wir gehen hier unserer Arbeit nach; wir haben nicht viel Zeit, an etwas anderes zu denken." Sie fühle sich nicht unsicherer als sonst. "Meine Mutter schon", wendet ihre Mitarbeiterin ein: "Aber sie sitzt heute den ganzen Tag vor dem Fernseher und sieht laufend die Berichte. Ich versuche sie zu beruhigen."
Etwas ist Marie allerdings aufgefallen: Sie hat an dem Tag keine Polizisten gesehen. Als sie von den Razzien gehört habe, habe sie gedacht, dass die Polizeipräsenz im EU-Viertel verstärkt würde. Doch sei dies keineswegs der Fall gewesen.
Allerdings haben die belgischen Behörden schon angekündigt, die Sicherheitsmaßnahmen zu verschärfen. Die Regierung hob die Terror-Warnstufe auf den zweithöchsten Rang an, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Bei einem Dutzend Razzien wurden mehrere Personen festgenommen. Am Donnerstag waren bei dem Einsatz in Verviers zwei mutmaßliche Islamisten erschossen worden. Die Rückkehrer aus dem syrischen Bürgerkrieg sollen Anschläge vor allem auf Polizeistationen geplant haben. Laut dem Sender BBC gibt es Spekulationen darüber, dass die Männer Instruktionen von der Terrormiliz Islamischer Staat erhalten haben könnten. Ein Zusammenhang mit dem Anschlag auf "Charlie Hebdo" wurde zunächst aber nicht hergestellt.
Schärfere Anti-Terror-Gesetze
Die Regierung von Ministerpräsident Charles Michel will nun im Kampf gegen den Terrorismus ein Bündel von Maßnahmen beschließen lassen. Die Liste reicht von strengeren Anti-Terror-Gesetzen über Kontosperren und Möglichkeiten zum Entzug der Staatsbürgerschaft oder des Reisepasses bis hin zu speziellen Überwachungsmissionen für die Armee. Michel forderte außerdem, dass sich die EU-Staats- und Regierungschefs mit dem Thema befassen. Eine erste Debatte darüber ist für eine Zusammenkunft am 12. Februar geplant. Am Montag schon steht dies auf der Agenda beim Treffen der Außenminister der EU.
Doch nicht nur in Belgien gingen Behörden gegen mutmaßliche islamistische Zellen vor. Mehrere Festnahmen gab es ebenfalls in Frankreich und in Deutschland. Bei einem Großeinsatz der Berliner Polizei wurden zwei Personen verhaftet, die Kämpfer für Syrien ausgebildet haben sollen. Daneben gab es Befürchtungen, dass Anschläge auf die Hauptbahnhöfe in Berlin und Dresden geplant sein könnten. Nach Informationen des Magazins "Spiegel" hätten mehrere Nachrichtendienste derartige Hinweise an die deutschen Behörden weitergeleitet.