2011 legte ein Erdbeben die neuseeländische Stadt Christchurch in Schutt und Asche. Beim Wiederaufbau setzen Aktivisten aus der Kulturszene ungewöhnliche Akzente.
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Am Himmel ein Ballett von Kränen, auf den Straßen Lastwagen-Konvois, die Luft erfüllt vom Rattern der Presslufthämmer und Kreischen der Sägen: Mehr als dreieinhalb Jahre nach dem verheerenden Erdbeben, das 185 Menschen in den Tod riss, präsentiert sich Neuseelands zweitgrößte Stadt Christchurch als eine der größten Baustellen der südlichen Hemisphäre.
Urbane Experimente
Doch in das nüchterne Geschäft von Abriss und Wiederaufbau haben sich bunte Tupfer gemischt, die Lust auf urbane Experimente verraten. Architektonisches Aushängeschild des neuen Christchurch ist die von Shigeru Ban entworfene "Cardboard Cathedral", für Aufbruchsstimmung sorgen Aktivisten aus der Kulturszene.
Zu ihnen zählt Coralie Winn, Mitbegründerin und Direktorin des Vereins Gap Filler. "Am Anfang herrschte große Verunsicherung, ob Christchurch jemals wieder auf die Beine kommen würde", erinnert sie sich an die Doppelkatastrophe, die vor vier Jahren über ihre Heimatstadt hereinbrach. Im September 2010 rief ein Erdbeben der Stärke 7,1 die lange verdrängte Tatsache in Erinnerung, dass die Stadtväter ihren "Pfeiler der Zivilisation" ausgerechnet in einer der seismisch aktivsten Regionen der Erde errichtet hatten.
Von viel verheerenderer Zerstörungskraft sollten jene Erdstöße sein, die sich ohne Vorwarnung zur Mittagszeit des 22. Februar 2011 an einer Verwerfung in nur neun Kilometer Entfernung vom Stadtzentrum entluden. Die tektonische Schockwelle ließ Häuser in sich zusammenfallen und Ziegel auf die Passanten herabregnen. Knapp 30 Sekunden reichten aus, um den zwei Mal zwei Kilometer großen Central Business District (CBD) der Stadt und damit den ökonomischen Motor der Südinsel Neuseelands lahmzulegen. Lokale, Geschäfte, Hotels, Ämter, Brücken, Stromleitungen und Kanalrohre - die Infrastruktur war ein Trümmerhaufen.
Das Chaos als Chance
Auch das Christchurch Arts Centre, in dem Coralie Winn beschäftigt war, musste seine Pforten wegen akuter Einsturzgefahr schließen. Doch anstatt der Stadt den Rücken zu kehren wie viele andere, sah die arbeitslos gewordene Kulturmanagerin in dem postapokalyptischen Chaos auch Chancen und hob mit Gleichgesinnten einen gemeinnützigen Verein aus der Taufe. Das Ziel: Der geschockten Bevölkerung Mut zu einem Neubeginn zu machen und die allerorts gähnenden Löcher mit "verrückten Ideen" zu füllen.
Etwa rund um die ehemalige anglikanische Kathedrale. Einst war die Kirche das Wahrzeichen der 360.000 Einwohner-Stadt. Seit dem 22. Februar 2011 präsentiert sich der neogotische Ziegelbau als ihr Schandfleck. Ein klaffendes Loch, wo einst der Turm in die Himmel wuchs, im Dachstuhl nisten Tauben. Dem deprimierenden Anblick haben die Kunstaktivisten einiges an Schärfe genommen, indem sie die Absperrungen mit knallbunten Ornamenten verzierten. Pflanzen machen sich besonders gut als Stimmungsaufheller. Den Schiffscontainern, die als provisorische Cafés und Geschäftslokale ein neues Leben gefunden haben, sind mobile Miniparks an die Seite gestellt worden. Auch die unzähligen nackten Mauern, die das Beben hinterließ, ergaben ein lohnendes Betätigungsfeld. Seit die Stadt den Street Art-Künstlern einen Freibrief ausstellte, wachsen Gemälde, Graffitis und Comic-Strips auf den Ziegelwänden.
Bürgerbeteiligung
Mit ungewöhnlichen Aktionen schafften es die Gap Filler und ihre Partner von Greening the Rubble, die monatelang abgesperrte Innenstadt wieder in das Bewusstsein der Bevölkerung zu hieven. Schräge Töne erklingen vom Soundgarden an der Ecke Gloucester & Colombo Street, wo eine Kinderschar Fantasie-Instrumente aus recycelten Trümmerteilen bearbeitet.
Hoch her geht es auf den Ein-Loch-Minigolfplätzen, die auf einem halben Dutzend Brachflächen angelegt worden sind. Zum größten Erfolg in Sachen Beteiligung mauserte sich der "Dance-O-Mat". Eine alte Waschmaschine umhüllt die Technik, eine Zwei- Dollar-Münze aktiviert Scheinwerfer und Lautsprecher; bloß noch den eigenen MP3-Player eingestöpselt - und der Party im urbanen Niemandsland steht nichts mehr im Weg. "Nach dem Erdbeben gab es weit und breit keine Clubs und keine Tanzstudios mehr. Der Gedanke, eine Tanzfläche unter freiem Himmel einzurichten, war naheliegend", erzählt die Gap Filler-Direktorin.
Als Dreh- und Angelpunkt für die Saison 2014/15 -auf der Südhalbkugel hält gerade der Sommer Einzug - dient eine frisch angelegte Rasenfläche auf dem Gelände des abgetragenen Crowne Plaza Hotels. "The Commons" versteht sich als offene Einrichtung. Wer will, kann Kräuter anpflanzen, sich im Liegestuhl entspannen oder die Hopfenplantage betreuen, die bald den Kleinbrauereien der Stadt Rohstoff liefern soll. Zur Verfügung gestellt wird Ausrüstung für Sackhüpfen, Krocket und weitere Nostalgie-Sportarten. Die Extra-Widmung als "Retro Sports Facility" versteht sich als ironischer Kommentar auf eine Stadt, die der sündteuren Renovierung der Sportstätten eine höhere Priorität einräumt als den Kultureinrichtungen.
Längst sponsern auch die Behörden sowie Unternehmen das Engagement der urbanen Kreativwerkstätten, die zum Aufbau eines neuen Wir-Gefühls in Christchurch beitragen. Über Mundpropaganda und soziale Medien mobilisieren Gap Filler und Co ehrenamtliche Mitarbeiter für die Umsetzung ihrer Projekte. Gleich 250 Freiwillige schraubten aus Holzpaletten den Pallet Pavillion zusammen, der bis April 2014 als alternativer Open-Air-Treffpunt der Stadt diente. "Gut 60 Prozent dieser Volunteers sind Frauen, Männer überwiegen nur, wenn es was zum Bauen gibt", erzählt die Gap Filler-Direktorin von ihren Erfahrungen.
Auf einem Extra-Stadtplan listet Christchurch & Canterbury Tourism die Popup-Projekte, Kunst- Installationen und Recycling-Shops auf, die der einstmals "englischsten" aller Städte Neuseelands ein neues Image verleihen. Die Tourismuswirtschaft hat das Erdbebendrama nach einer kurzen Schrecksekunde in ihre Konzepte integriert.
"Quake City" heißt eine Ausstellung, die alle Facetten der Naturkatastrophe ausleuchtet (abgeleitet von "Earthquake", dem englischen Wort für Erdbeben). Auf geführten Touren bekommt man eine Story aus Trümmer-Romantik, Architekturvisionen und einer Gründerzeitstimmung vorgesetzt, wie sie derzeit wohl keine andere Stadt zu bieten hat. Die "New York Times" platzierte Christchurch auf Platz zwei der Reiseziele, die man 2014 besucht haben muss.
Irritierende Kontraste
Ein irritierendes Nebeneinander von innovativen Designs, Normalität und Tristesse prägt heute das Stadtbild. Von manchen historisch wertvoll eingestuften Gebäuden ist nur die Fassade übrig geblieben. Stahlzangen halten sie aufrecht, bis sie im Sanierungskarussell an die Reihe kommen. Einzelne Straßenzüge verströmen mit ihren verblichenen "Keep Out"-Schildern und gespenstisch leeren Fensterhöhlen die Aura eines Endzeitthrillers. Einige Blocks weiter erblickt man die ersten Bauten, die auf Basis der verschärften Erdbebenvorschriften errichtet worden sind.
Das neue Christchurch fußt vorwiegend auf Holz, Stahl und Glas - Materialien, die sich im Vergleich zu Ziegelsteinen und Betonplatten als erdbebenresistenter erwiesen haben. Mancherorts müssen die Stützpfeiler 20 Meter tief in den Boden getrieben werden, um den sumpfigen Untergrund zu überbrücken - auch das ein Konstruktionsfehler des "alten" Christchurch.
Wo aufgrund des instabilen Bodens nicht mehr gebaut werden darf, entstehen Parks, die Neuseelands "Garden City" noch grüner machen sollen. Auf dem Reißbrett existiert die Stadt der Zukunft bereits. Addiert man zu den Gesamtschäden in der Höhe von 40 Milliarden Neuseeland-Dollars (25 Milliarden Euro) die begrenzten Ressourcen des kleinen Pazifik-Staates, Eiertänze mit den Versicherungen sowie Eifersüchteleien zwischen den beteiligten Akteuren, bekommt man jedoch eine Ahnung, warum der Wiederaufbau schleppend vor sich geht.
Die Naturgewalten haben das städtische Gefüge auf den Kopf gestellt. Neue Ausgehmeilen entstehen dort, wo Gebäude den Erdstößen getrotzt haben. Im südöstlichen Vorort Woolston beschloss die Familie Cassells, ihre verwüstete Kleinbrauerei wieder aufzubauen und um ein Pub zu erweitern. "Damals fehlte es an allem: an Orten der Zusammenkunft, an Cafés, an Gastlichkeit. Und die Leute hatten natürlich Durst", erzählt Juniorchef Zak Cassells. Bald expandierte man, weil sich abzeichnete, dass das Zentrum auf Jahre hinaus nicht mehr auf die Beine kommen würde. Cassells Brewery Pub ist heute Teil einer Shopping Mall namens "The Tannery", die nebenan in einer stillgelegten Gerberei entstanden ist. Einige seiner Pächter haben im CBD lange vergeblich nach Geschäftsflächen gesucht. "Ohne das Beben hätte unser Projekt wohl keine Chance gehabt, denn um diesen Teil der Stadt kümmerte sich niemand", sagt Cassells.
Die Ersatzkathedrale
Beinahe von der Landkarte gerutscht ist dagegen das alte Zen-trum von Christchurch, wo der Streit um die Zukunft der ehemaligen Kathedrale den Wiederaufbau lähmt. Aus einer Initiative anglikanischer Gemeindemitglieder ist wenige Hundert Meter entfernt ein Provisorium errichtet worden, das sich in kürzester Zeit als spektakuläres neues Wahrzeichen von Christchurch etabliert hat. Eine Ersatzkathedrale aus Holz, Stahl, und einem ganz und gar ungewöhnlichen Baustoff: Pappkarton.
Entworfen hat die "Cardboard Cathedral" der Japaner Shigeru Ban, der von Kobe bis Haiti viel beachtete Notunterkünfte aus lokal vorhandenen Materialien umgesetzt hat und vor wenigen Monaten mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet wurde, der höchsten Auszeichnung in der Welt der Architektur.
"Als er um Hilfe gebeten wurde, setzte er sich in das erste Flugzeug nach Neuseeland", erzählt Johnny McFarlane, der als Projektmanager den Kirchenbau beaufsichtigt hat.
Die Knochenarbeit leisteten Freiwillige. Über 80 Volunteers, vom Pensionisten bis zum Rucksacktouristen, wirkten bei der Anfertigung und Verstärkung der 20 Meter langen und 60 Zentimeter dicken Röhren mit, die das Rückgrat der im August 2013 eröffneten "Pappkarton-Kathedrale" bilden. Ein Betonfundament und Schiffscontainer an den Längsseiten verleihen dem Gotteshaus Stabilität. In einem flexiblen Holz-Stahl-Rahmen sind die Zylinder aus imprägniertem Pappkarton verankert, die in einen Stahlfirst münden. Darüber spannt sich ein Dach aus Polycarbonat-Kunststoff - ein Design, das die Erdbebenvorschriften "zu 130 Prozent" erfüllt, betont McFarlane.
Die 700 Menschen fassende "Cardboard Cathedral" kostete nur den Bruchteil eines herkömmlichen Sakralbaus und soll mindestens 50 Jahre halten. Zur Funktionalität gesellt sich die eigenwillige Ästhetik. Natürliches Licht, das durch das Kunststoffdach und das stirnseitige Buntglasfenster strömt, lässt den Kirchenraum luftig und hell erscheinen. Und weil es noch kaum Bühnen gibt, steht die Kirche auch für Empfänge, Modeschauen und andere Events offen, die der Stadt wieder ein Stück ihrer Normalität zurückgeben. "Sie ist mittlerweile viel mehr als eine Kathedrale. Sie ist zum Symbol dafür geworden, dass Christchurch wieder auf die Beine kommt", ist Architekt McFarlane überzeugt.
Stefan Spath, geboren 1964, lebt als freiberuflicher Journalist in Wien. Schwerpunkte: Reisereportagen, Porträts, Geschichte.
Webinfo: www.cardboardcathedral.org.nz