Zum Hauptinhalt springen

Blutiger Alleingang im Wüstensand

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

London und Tokio über Vorgehen der algerischen Behörden verärgert.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Kairo. Es ist die größte Geiselnahme, die es in jüngster Zeit gegeben hat. Über 700 Menschen sollen auf dem Gasfeld in der algerischen Wüste gewesen sein, als am Mittwoch etwa 70 schwer bewaffnete Männer das Terrain überfielen und alle Anwesenden als Geiseln nahmen. Am Freitag Abend waren immer noch 60, zumeist Ausländer, in den Händen der Kidnapper. Der Rest ist entweder getötet oder befreit worden - oder geflohen.

Nach dem anfänglichen Wirrwarr verdichten sich die Informationen, dass mehr als 630 Gefangene der tödlichen Falle entkommen sind, darunter mehr als die Hälfte der ausländischen Geiseln. Die algerischen Arbeiter des Gasfeldes dürften zum Großteil von den Terroristen nicht aufgehalten worden sein. Stündlich kamen weitere Details ans Tageslicht. Das Tigantourine Gasfeld, das südwestlich von In Amenas nahe der libyschen Grenze mitten in der Sahara liegt, liefert fast ein Fünftel der gesamten algerischen Förderung - der Export von Öl und Gas sorgt für 90 Prozent der algerischen Staatseinnahmen. Auf dem Tigantourine-feld arbeiten Experten aus Europa, den USA, Japan und Algerien. Die britische BP, die norwegische Statoil und der algerische Staatskonzern Sonatrach fördern dort seit Ende der 90er Jahre Flüssiggas, das vor allem nach Europa exportiert wird. Die Hauptstadt Algier ist 1300 Kilometer entfernt. Entsprechend schwierig sind die Informationswege.

"Wenig Information"

Während die algerischen Medien das energische Vorgehen der Armee feierten, war unter anderem in London der Ärger über den blutigen Alleingang groß - denn vor der Befreiungsaktion hat Algier die internationalen Partner nicht konsultiert. Erst als die Militäraktion zur Befreiung der Geiseln schon lief, sei er von seinem algerischen Amtskollegen darüber informiert worden, sagte der britische Premierminister gestern im Parlament in London. Eigentlich wollte David Cameron eine für Großbritannien richtungweisende Rede zum Verhältnis der Insel zur Europäischen Union halten, sagte diese aber aufgrund des Geiseldramas ab. Unter den Gekidnappten sind auch Briten. Mindestens einer von ihnen wurde von den Geiselnehmern getötet. Unter den Festgehaltenen seien neben Briten und Algeriern Menschen aus mindestens sieben anderen Ländern. "Wir haben es mit einer veränderlichen und gefährlichen Situation zu tun: Auf der einen Seite der Anlage ist ein Teil der terroristischen Bedrohung ausgeräumt, aber an anderer Stelle bleibt eine Bedrohung."

Frankreich, das derzeit in Mali gegen die Islamisten Krieg führt, hat Kritik am algerischen Militäreinsatz zurückgewiesen. Die Situation sei wegen des Ausmaßes der Geiselnahme "sehr komplex" gewesen, so der Sprecher des Außenministeriums. Die algerischen Behörden seien zu dem Schluss gekommen, dass es keine andere Wahl als den Ansturm auf die Anlage gab. Die Geiselnahme in Algerien zeige, welche Bedrohung von den extremistischen Islamisten in Nord- und Zentralafrika ausgehe, was für die gesamte internationale Gemeinschaft auf dem Spiel stehe, fügte der Sprecher hinzu.

Bohrstellen noch besetzt

Anscheinend wurden die Wohnkomplexe für die Arbeiter befreit - die kleine Wohnstadt mit Sportstätten, Kino und medzinischen Einrichtungen liegt einige Kilometer von der Förderanlage entfernt. Die Bohrstellen selbst blieben aber vorerst noch von Terroristen besetzt. Beim Angriff der algerischen Armee auf die Geiselnehmer sollen zahlreiche Menschen getötet worden sein, darunter auch Geiseln: Sicherheitskräfte sprechen von 30 toten Geiseln

Einigermaßen irritiert über die Vorgehensweise der Algerier zeigte sich gestern auch Japan, das noch 14 seiner Bürger vermisst. Drei Japaner konnten fliehen und sich in Sicherheit bringen. Sicherheitsberater Yoshihide Suga brachte "tiefes Bedauern" über die kompromisslose Militäraktion der Algerier zum Ausdruck. Auch die USA beklagten sich, vor allem über mangelnde Kommunikation.

Der algerische Innenminister, Dahou Ould Kabila, hatte gleich zu Beginn der Geiselnahme jegliche Verhandlungslösung mit den Kidnappern ausgeschlossen. Seine Regierung sei nicht willens, auf die Forderungen der Geiselnehmer einzugehen, hatte er schon einen Tag vor Beginn der Militäroperation betont..

Verantwortlich für die Geiselnahme zeichnet eine terroristische Organisation um den Algerier Mokhtar Belmokhtar. In dem kaum kontrollierten Gebiet zwischen Südalgerien, Mali, Tschad, Niger und Mauretanien soll er für verschiedene Geiselnahmen verantwortlich sein. Seine Brigade Al Mouthalimin soll heute 200 bis 300 Mann stark sein. Al Mouthalimin hat weitere Angriffe auf ausländische Einrichtungen in Algerien angekündigt und zuletzt auch - im Austausch gegen zwei noch festgehaltene US-Bürger - die Freilassung zweier Islamisten gefordert, die derzeit in US-Gefängnissen einsitzen.

Bei den beiden Personen, die die Terrorgruppe freipressen will, handelt es sich um Omar Abd al-Rahman und Aafia Siddiqui. Abd al-Rahman, der als Drahtzieher des ersten Anschlags auf das World Trade Center 1993 gilt, ist einer der schillerndsten ägyptischen Islamisten. Jahrelang führte er die militante Gamaa Islamiya am Nil. In den achtziger Jahren ging der blinde Islamist nach Afghanistan und knüpfte dort Kontakte zu Osama bin Laden. Später ging er in die USA. Ein Gericht verurteilte den "blinden Scheich" 1996 zu lebenslanger Haft.