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Bologna-Proteste: Viel Lärm um wenig

Von Adrian Lobe

Gastkommentare

Es sollte ein erneutes Aufbäumen gegen die als ungerecht empfundene Bologna-Reform an deutschen Hochschulen werden: Tausende Studenten riefen vor kurzem zu einem "Bildungsstreik" auf, um ihrem Ärger Luft zu machen. Bologna sei unausgegoren, benachteilige sozial Schwächere und ökonomisiere die Universitäten, wetterten die Demonstranten, deren Zahl sich im Vergleich zum europaweiten Protest im November 2009 stark reduziert hat.


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Allen voran Gruppierungen des linken Spektrums nutzen die Plattform für ihre krude Kapitalismuskritik. Längst ist der Protest zu einem Sammelbecken diffuser Anschuldigungen verkommen.

Sieht man von den Pauschalierungen ab, ist den Streikenden zu konzedieren, dass die Reform in der Tat einige Unstimmigkeiten hervorrief: Die Lehrpläne variieren teils erheblich, einzelne Studiengänge sind nicht akkreditiert, im Ausland erworbene Leistungen können zuweilen nur mühsam angerechnet werden. Doch sollte es nicht verwundern, wenn ein europäisches Großprojekt nicht auf Anhieb reibungslos funktioniert.

Die nationalen Rechtsanwender hatten nach Maßgabe der Bologna-Erklärung ein möglichst kohärentes und transparentes Kreditpunktesystem zu entwickeln. Dabei betraten die Bildungspolitiker Neuland - sie konnten sich nur schemenhaft am US-Modell orientieren, das auf einem grundverschiedenen Primar- und Sekundarschulwesen basiert. Graduelle Konstruktionsfehler, wie etwa eingeschränkte Wahlmöglichkeiten oder zu dichte Module, waren somit kaum vermeidbar. Sie können aber korrigiert werden. Jede institutionelle Neuerung bedarf im Laufe ihrer Umsetzung punktueller Anpassungsmaßnahmen. Eine Chance, die man auch der Bologna-Reform einräumen muss - ohne sie voreilig als "gescheitert" abzuqualifizieren.

Schließlich sollte man bedenken, dass Europas Universitäten in ihr jeweiliges nationales Ausbildungssystem eingebettet sind und einer gewissen Pfadabhängigkeit unterliegen. Gewachsene, in der politischen Kultur wurzelnde Institutionen entwickeln sich nur langsam - sie sind gewissermaßen träge. Diese strukturellen Faktoren einfach beiseite zu schieben und so zu tun, als habe sie Bologna verursacht, entbehrt jeder Grundlage. Selbstredend gab es auch schon davor Unterschiede in den Lehrinhalten und Abschlussarten. Das Ziel war es ja gerade, diese anzupassen und damit Übersichtlichkeit und Vergleichbarkeit zu schaffen - im Interesse der Studierenden.

Umso befremdlicher ist es, mit welcher Radikalität die Hochschulreform angeprangert wird. Wer durch die Horden verbitterter Demonstranten in Deutschland lief, konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, hier solle der Geist von 1968 geweckt werden. Doch wirkt der antielitäre Reflex reichlich künstlich. Die als "reaktionär" verschrienen Dienstherren haben unlängst Gesprächsbereitschaft signalisiert und Korrekturen in Aussicht gestellt. Die Streikenden täten gut daran, sich von ihrer Pauschalkritik zu befreien und den Dialog mit den Hochschulpolitikern zu suchen. Nur so haben sie eine Chance, am Bologna-Prozess mitzuwirken.

Adrian Lobe studiert Politik- und Rechtswissenschaft und ist freier Journalist in Tübingen.