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Boris der Unberechenbare

Von Siobhán Geets

Politik

Niemand weiß, was Boris Johnson wirklich denkt. Als Premier könnte er auf einen alten Vorschlag der EU zurückkommen.


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London/Wien. Boris Johnson, so scheint es, ist nicht zu stoppen. Der Favorit für die Nachfolge der britischen Premierministerin Theresa May konnte sich am Dienstag einmal mehr freuen: Laut einer Umfrage des britischen Meinungsforschungsinstituts YouGov ist der rasche EU-Austritt einer Mehrheit der Tories wichtiger als der Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs. Mehr als zwei Drittel von 900 Befragten würden eine Loslösung Schottlands und Nordirlands als Folge eines Brexit ohne Abkommen in Kauf nehmen. Damit sind die Tories endgültig zur Brexit-Partei geworden.

Seit dem Referendum von 2016, bei dem sich knapp 52 Prozent der Briten für den Austritt aus der EU ausgesprochen hatten, sind die konservativen Tories stückweise nach rechts gerückt. Wer neuer Premier wird, steht zwar erst Ende Juli fest, doch eines ist bereits klar: Ein No-Deal-Brexit ist mit der Suche nach einem neuen Premierminister wahrscheinlicher geworden.

Johnson droht Brüssel sogar offen damit: "Der beste Weg zu einem guten Deal ist, sich auf den No-Deal-Brexit vorzubereiten", sagt er. Das Kalkül: Bleibt London hart, wird Brüssel schon noch einknicken - und den Briten am Ende Zugeständnisse beim "Backstop" machen. Die Brexiteers wollen diese Notlösung zur Verhinderung von Grenzkontrollen in Irland aus dem Austrittsabkommen streichen. Sie fürchten, dadurch dauerhaft in der Zollunion der EU zu verbleiben - und damit keine eigenen Handelsabkommen abschließen zu können. Um einen besseren Deal zu erzwingen, droht Johnson damit, die Schulden seines Landes bei der EU (rund 44 Milliarden Euro) einfach nicht zu bezahlen. Den Brexit will er am 31. Oktober durchziehen, ob mit oder ohne Deal.

Mit seinen Forderungen ist Johnson nicht alleine. Der ehemalige Brexit-Minister Dominic Raab will sogar das Parlament entmachten, damit die Abgeordneten einen Austritt ohne Abkommen am 31. Oktober nicht verhindern können.

Ein solcher No-Deal-Brexit würde zwar auch den verbleibenden Mitgliedstaaten schaden, für Großbritannien wären die Folgen jedoch verheerend: Verlässt das Land die EU ohne Abkommen, gibt es auch keine zweijährige Übergangsfrist, in der es weiterhin im Binnenmarkt bleibt. Das Vereinigte Königreich würde über Nacht zum Drittstaat - und wäre damit auf die Regeln der WHO zurückgeworfen.

Einhörner im Tory-Wald

Doch all das scheint die Mehrheit der Konservativen nicht zu schrecken. Die Tories sind in eine Art magisches Denken verfallen, gefangen in einer Welt, die von außen nicht mehr nachvollziehbar ist. Immer und immer wieder weist die EU darauf hin, dass der Austrittsvertrag nicht mehr aufgeschnürt wird. Doch die Tories wollen es nicht hören. "Fiktion und Fantasie" bestimmten das Rennen um die Nachfolge Mays, sagte auch der ehemalige britische Botschafter in Brüssel John Kerr zum linksliberalen Guardian. "Neue, nicht weniger unrealistische Versprechen werden gemacht. Die Einhörner tollen wieder durch den Tory-Wald."

Die wilde Panik britischer Proeuropäer und liberaler Konservativer im Angesicht eines Boris Johnson als neuen Premier mag berechtigt sein. Eines sollte man aber nicht vergessen: Der Mann ist unberechenbar, niemand weiß genau, was er wirklich denkt. So glaubt der ehemalige Tory-Abgeordnete Michael Portillo, dass Johnson, einmal an der Macht, auf die ursprüngliche Backstop-Lösung Brüssels zurückkommen würde: Demnach bleibt nur Nordirland in der Zollunion mit der EU, der Rest des Vereinigten Königreichs tritt aus. Kontrollen zwischen der Republik Irland und dem Norden werden damit hinfällig, die Grenze verläuft durch die Irische See, also zwischen Irland und Großbritannien. Auch die Tory-Brexiteers sollte das befrieden - immerhin könnte London dann eigene Handelsabkommen abschließen. Portillo schlägt vor, die Nordiren in einem Referendum darüber entscheiden zu lassen. Die Chancen, dass es im Sinne des Vorschlags ausgehen würde, stünden nicht schlecht.

Sollte Johnson den alten Vorschlag tatsächlich wieder aufgreifen und ihn als seine Idee verkaufen, wäre das zwar ironisch, wirklich überraschend käme es aber nicht: Johnson ist bekannt dafür, große Versprechen zu machen, wenn sie ihm denn Stimmen bringen. Was er dann, einmal gewählt, tatsächlich tut, ist schwer vorhersehbar.

Sollte es der neue Premier hingegen auf einen Brexit ohne Deal anlegen, haben mehrere einflussreiche Tories damit gedroht, ihn gleich wieder zu stürzen. Um der Regierung die Unterstützung zu entziehen, bräuchte es nicht einmal eine Handvoll von ihnen. Die Folgen wären Neuwahlen im Herbst.