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Boris Jelzins Tochter bricht ihr Schweigen

Von WZ-Korrespondent Christian Weisflog

Europaarchiv

Tatjana Jumaschewa versucht das politische Erbe ihres Vaters in ein besseres Licht zu stellen. | "Er wollte Demokratie." | Moskau. Ein ganzes Jahrzehnt hüllte sich Tatjana Jumaschewa in Schweigen. Und nun dies: Erst gab sie der Zeitschrift "Medwjed" (Bär) ein langes Interview. Darin sprach sie nicht nur ausführlich über die Politik des Kremls in den 90er Jahren, sondern auch über ihre Jugendliebe und ihr aktuelles Familienleben.


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Überdies kreierte Boris Jelzins ältere Tochter einen Internet-Blog, auf dem sie sich mit Usern angeregt über ihre politische Vergangenheit und ihr aktuelles Privatleben austauscht. In einem bei Youtube veröffentlichten Video diskutiert Jumaschewa mit anderen Bloggern die turbulenten Amtsjahre ihres Vaters. Russlands erster Präsident sei nicht ohne Fehler gewesen, aber er habe immer ein klares Ziel vor Augen gehabt: "Er wollte einen demokratischen Staat mit einer Marktwirtschaft errichten", verteidigt Jumaschewa Jelzins Politik und erinnert dabei auch an die schwierigen äußeren Bedingungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Jumaschewa weiß, wovon sie spricht. Die Mathematikerin mischte damals im Kreml munter mit. Jelzins Entourage spannte die heute 49-Jährige in den Präsidentschaftswahlkampf 1996 ein. Die Tochter sollte die Sympathien im Volk retten, die ihr Vater durch die chaotische Privatisierung und den verlorenen Krieg in Tschetschenien verspielt hatte. Zudem erhofften sich die Oligarchen, die Jelzins Wahlkampf finanzierten, über die Tochter einen direkteren Zugang zum Ohr des Präsidenten zu erhalten. Fortan verfügte Tatjana, die den impulsiven Charakter ihres Vaters geerbt haben soll, über ein eigenes Büro im Kreml.

Als Wladimir Putin 2000 das Zepter im Kreml von Jelzin übernommen hatte, musste jedoch auch dessen Tochter ihr Arbeitszimmer räumen. Wie ihr Vater zog sich Jumaschewa danach praktisch ganz aus der Öffentlichkeit zurück. Die Familie Jelzin schwieg, obwohl Putins autoritärer Richtungswechsel nicht im Sinne des ersten russischen Präsidenten sein konnte. Schmerzlich war für Jelzin unter anderem die Rückkehr zur Melodie der Sowjet-Hymne, sagt seine Tochter jetzt.

Deal mit Nachfolger

Doch trotz des Unbehagens übte Jelzin bis zu seinem Tod 2007 keine Kritik an Putins Regime. Der Grund dafür - so wird gewöhnlich vermutet - könnte in einer geheimen Übereinkunft zwischen Putin und Jelzin gelegen haben. Im Gegenzug für den Kremlthron soll Putin seinem Vorgänger und seiner Familie Immunität vor einer gerichtlichen Verfolgung zugesichert haben. Gleichzeitig sollte sich der Jelzin-Clan, der wiederholt mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert wurde, künftig aus der Politik heraushalten.

Doch Jelzins Tochter dementiert nun all diese Erklärungsversuche. Putin habe lediglich ihrem Vater als Ex-Präsident rechtliche Immunität zugesichert. Sämtliche Korruptionsvorwürfe seien zudem haltlose Erfindungen, sagt Jumaschewa. Jelzins Tochter wirkt in ihren jüngsten Auftritten durchaus glaubwürdig. Doch ist unklar, woher ihre plötzliche Redefreude rührt. Möchte sie das Erbe ihres Vaters lediglich in ein besseres Licht rücken? Oder denkt sie selbst gar an ein politisches Comeback?

Klar scheint nur dies: Eine sachliche und tiefer gehende Diskussion über die schmerzlichen Umwälzungen und Reformen der 90er Jahre ist in Russland längst überfällig. Putins autoritäres Regime macht heute Jelzins liberale Regierung alleine für die damaligen wirtschaftlichen Schwierigkeiten verantwortlich. Die jahrzehntelange sowjetische Misswirtschaft oder auch die tiefen Erdölpreise der 90er Jahre (acht Dollar pro Barrel) werden hingegen ausgeblendet und die historische Realität somit verkannt.