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Boris Johnson und die britische Perestroika

Von Melanie Sully

Gastkommentare
Melanie Sully ist britische Politologin und Direktorin des in Wien ansässigen Instituts für Go-Governance. Sie hat unter anderem als Konsulentin für die OSZE und den Europarat in Straßburg gearbeitet und ist Mitglied des Royal Institute of International Affairs in London.
© Weingartner

Ein neues schottisches Referendum könnte für Johnson ein Befreiungsschlag sein.


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Boris Johnson ist ein leidenschaftlicher Radfahrer, und er weiß: "Wer rastet, der rostet." Im vorigen Jahr wurde er zum Tory-Chef gewählt, um als Premier den Brexit zu vollziehen und die politische Bedrohung durch Jeremy Corbyn und dessen Labour Party zu beenden, indem er bei einer Wahl eine Tory-Mehrheit sicherstellte. Das dürfte Johnson wohl geschafft haben - und er hat sich dabei beinahe selbst überflüssig gemacht. Doch Johnson muss eine lang anhaltende Vision in seiner Amtszeit erst noch prägen. Ihn treibt keine Ideologie an, die etwa Margaret Thatchers Zeit in der Downing Street kennzeichnete. Stattdessen wurden in einer Reihe von Krisen viele ungelöste Probleme aufgehäuft.

Daher tritt Boris weiterhin in die Pedale und kündigt nun ein Programm mit der Parole "Bauen, bauen, bauen" - und mit enormen Staatsausgaben - an. Der Tory-Premier fühlte sich veranlasst zu betonen, dass er kein Kommunist sei - auch wenn sein Plan staatliche Interventionen sind.

Johnson hat mit zahlreichen Baustellen zu kämpfen, einschließlich innerstädtischer Armut, Kriminalität, der zunehmenden Kluft zwischen den Regionen und einer "Black Lives Matter"-Bewegung, die allesamt noch zu einem politisch heißen Sommer führen könnten.

Der einstige Labour-Premier Tony Blair hatte die Vision einer Umstrukturierung des Wohlfahrtsstaates auf der Grundlage von "Bildung, Bildung, Bildung". Stattdessen startete Blair in der Innenpolitik ein Verfassungsreformprojekt, das die Gründung des schottischen Parlaments ermöglichte. Dies war ein Versuch, eine weitere Dezentralisierung durch den Abzug einiger Befugnisse von London zu vermeiden. Statt den Durst nach einem Bruch mit England zu stillen, weigert sich die schottische Unabhängigkeitsbewegung hartnäckig, sich loszulösen. Im kommenden Jahr werden die Schotten ihr Parlament in Edinburgh neu wählen, und die Frage eines neuen Unabhängigkeitsreferendums wird garantiert eine wichtige Rolle im Wahlkampf spielen. Beim Referendum 2014 wurde
ein Bruch mit London abgelehnt, doch seither ist viel passiert.

Während Johnson ratlos darum kämpft, kostspielige Versprechen zu finanzieren, könnte er sich auch für eine konstitutionelle Perestroika entscheiden. Es wäre ein Glücksspiel, aber warum den Schotten nicht ein zweites Referendum für Herbst 2021 anbieten? Mit der Unabhängigkeit stünde Schottland außerhalb der EU und außerhalb des Vereinigten Königreichs. Die EU könnte vielversprechende Verlautbarungen machen und den Schotten eine rasche Mitgliedschaft anbieten, die möglicherweise nicht zustande käme oder nicht wünschenswert wäre. Es würde sich auch die Frage stellen, ob die Schotten glücklicher damit wären, das norwegische Modell zu übernehmen, als der EU wieder beizutreten.

Die Ankündigung eines zweiten Referendums für Schottland würde rundum zu einem großen Wirrwarr führen. Die Position der Labour Party zu einem zweiten Referendum ist gelinde gesagt ambivalent. Während Boris weiterhin in die Pedale tritt, könnte die britische Perestroika sein Weg aus einem großen Dilemma sein.