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Boris Johnson und Europa

Von Andreas Raffeiner

Gastkommentare

Warum der Favorit für das Amt des britischen Premierministers ein wenig aufpassen muss.


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Es ist nicht einfach für den Brexiteer Boris Johnson. Stehen in London die Zeichen auf Sturm oder lediglich auf eine knallharte Konfrontation mit der Europäischen Union? Der Favorit für den Posten des britischen Premierministers (die Tory-Urabstimmung über den Partei- und damit über den Regierungschef endet demnächst) droht mit einem Brexit ohne Vertrag für den Fall, dass die anderen 27 EU-Staaten einen von ihm angebotenen Freihandelsvertrages zurückweisen sollten.

Die EU hat Großbritannien eine Frist bis 31. Oktober für einen vertraglich abgesicherten Ausstieg gesetzt. Doch die britische Wirtschaft schreit auf; sie möchte auch ein Wörtchen mitreden. Unternehmen und Experten warnen vor einem vereinbarungslosen Brexit. Johnson, in seiner politischen Karriere auch einmal britischer Außenminister, hat prognostiziert, dass es zu keinerlei Verwerfungen und Spaltungen im Handelssektor kommen würde. Seine Mutmaßung begründete er damit, dass sich sowohl Brüssel als auch London auf behelfsmäßige Handelserleichterungen verständigen könnten, die an den Austritt aus dem Binnenmarkt der Union anschließen würden.

Falls es keine Sonderklauseln und Extrawürste gibt, werden bei einem harten Brexit Zölle erhoben. Damit diese dessen ungeachtet für EU-Importwaren gering gehalten werden können, muss Großbritannien dies nach dem WTO-Meistbegünstigtenprinzip auch für Einfuhren aus anderen Staaten tun. Dessen ungeachtet will die EU klarmachen, dass die den ausgehandelten Trennungsvertrag, der von London zurückgewiesen wurde, auf keinen Fall aufgeschnürt, zurückgenommen oder gar durch einzelne Abkommen über Teilgebiete ersetzen wird. Über kurz oder lang muss London endlich sagen, was es will. Sonderverträge hin oder her, die politische Glaubwürdigkeit geht nach dem jahrelangen Hickhack die Themse hinunter.

Doch Johnson übersieht bei allem politischem Kalkül eines: Seine Strategie und Taktik kommen einem Wunschdenken gleich, und es bedarf großen Einfallsreichtums, um sie zu rechtfertigen. Die künftige neue Beziehung zwischen Großbritannien und der EU kann auf diese Weise nur aufrecht erhalten werden, wenn der Scheidungsvertrag angenommen und vorbehaltlos ohne weiteres akzeptiert wird.

Da das Volk immer recht hat, versteht ein demokratisch gesinnter Mensch sowieso nicht, warum sich die Regierung in London so schwertut, den Bevölkerungsentscheid für einen EU-Austritt problem- und reibungslos in die Tat umzusetzen. Die EU will sich von Großbritannien nicht an der Nase herumführen lassen. Vermutungen helfen hier nicht weiter. Nur wer faktenorientiert arbeiten kann, kann Ergebnisse auf den Verhandlungstisch legen. Sonst geht die Posse weiter, während die Europäische Union in einem Zustand der Lethargie handlungsunfähig wird.

Dabei gibt es fernab des machtkonzentrierten Lobbyismus weitaus bessere und effizientere Themen, die den Fortbestand des Staatenbundes gewährleisten können und nicht aufs Spiel setzen.

Andreas Raffeiner befindet sich im Doktoratsstudium Geschichte an der Universität Innsbruck und lebt als freiberuflicher Redakteur, Rezensent und Referent in Bozen.