Zwangspause im Parlament, Parteiausschluss und Bruderzwist: Widerspruch wird von Johnson nicht mehr geduldet. Er selbst vergleicht sich mit dem römischen Kaiser Augustus. Um einen Fahrplan beim Brexit geht es nur noch am Rande.
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London. "Er ist ein harter Arbeiter, er kommt mit fünf Stunden Schlaf aus", sagt die Dame im Zug zwischen Kent und London. "Thatcher hat nur vier Stunden gebraucht", kontert ihre Sitznachbarin. Die beiden reden also über Boris Johnson. So völlig voneinander entfremdet sind heutzutage die Wahrnehmungen der politischen Realität.
Beim großen "Stop the Coup"-Marsch auf dem Trafalgar Square, bei dem die Menge zur Melodie von "Seven Nation Army" "No one voted for Boris" skandierte, hatte ein Demonstrant ostentativ eine mit weißblonder Wolle dekorierte Pappfigur ins Maul einer Löwenstatue gestopft - weißblond steht natürlich für das Haar des privilegierten Günstlings des Systems. Im parallelen Universum der "Daily Mail" und "Telegraph" lesenden, reiferen Land-Bourgeoisie ist der Macher-Mythos des Premierministers dagegen immer noch intakt. Vielleicht, dachte ich mir, fragten sich die beiden Damen später dann beim Nachrichtenschauen, ob Johnson nicht doch ein bisschen mehr schlafen sollte. Sein stammelnder Auftritt an jenem Donnerstag vor den Reih und Glied stehenden Rekruten der Polizeischule in Wakefield, West Yorkshire, wirkte so verwirrt, dass im "Guardian" sogar über Drogenmissbrauch gemutmaßt wurde.
Doch Johnsons Desorientierung war durchaus verständlich, er hatte nämlich einen schweren Tag gehabt. Erst war der dauerwahlkämpfende israelische Premier Benjamin Netanjahu auf eine halbe Stunde in der Downing Street vorbeigekommen, um über den Iran zu reden. Johnson solle Druck auf Frankreichs Emmanuel Macron ausüben. Doch der Einfluss eines britischen Premiers auf einen französischen Präsidenten ist heutzutage sehr begrenzt. Und besser dürfte es nicht werden. So hat Johnson schon beim G7-Gipfel in Biarritz einen Vorgeschmack darauf bekommen, wie es sich anfühlt, wenn Großbritannien nach seinem Ausscheiden aus der EU nur noch eine geminderte weltpolitische Rolle zukommt. Denn dass er sich gemeinsam mit Macron und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel gegen die von Donald Trump betriebene Isolationspolitik gestellt hat, war ein kleiner riskanter Seitenschritt im diplomatischen Eiertanz. Schließlich muss Johnson seinen Freund im Weißen Haus bei Laune halten. Das von Trump versprochene Post-Brexit-Handelsabkommen ist nämlich die eine große Verheißung einer glorreichen Zukunft des "global Britain". Selbst wenn ein solcher Deal nie den Verlust der Mitgliedschaft im EU-Binnenmarkt wettmachen könnte.
Eine ausgedünnte Mannschaft
Als ob Boris’ Welt noch nicht komplex genug wäre, kam ihm dann auch noch sein eigener Bruder Jo dazwischen, der spontan als Universitätsminister zurücktrat und das per Twitter mit einer "unauflöslichen Spannung" zwischen "Loyalität zur Familie und dem nationalen Interesse" begründete. Jo, der Jüngere, hatte schon im November 2018 aus Protest gegen deren sture Brexit-Linie das damalige Kabinett von Theresa May verlassen. Was ihn nicht daran hinderte, diesen Sommer des älteren Johnsons "No Deal"-Hardliner-Kabinett beizutreten, um sich nun mit seinem erneuten Abgang postwendend wieder als Mann des Prinzips zu inszenieren.
Immerhin, in ihrem Hang zum flotten Seitenwechsel sind sich die zerstrittenen Johnson-Geschwister ähnlich: Schwester Rachel, die bei den Europa-Wahlen für die Anti-Brexit-Zentristen-Partei Change UK kandidierte, war vorher Liberaldemokratin, und davor konservativ.
Wenigstens hatte Jo nicht mit den Tory-Rebellen gestimmt, als das Unterhaus Boris Anfang der Woche eine Serie schwerer Niederlagen versetzte. Eine Allianz aus Opposition und Tory-Rebellen hatte gegen den Willen der auf Brexit um jeden Preis eingeschworenen Regierung ein Gesetz zur Verhinderung eines "No Deal"-Szenarios beschlossen. Am Freitag passierte das Gesetz auch das Oberhaus. Es verpflichtet Johnson, die EU um eine Verschiebung des Austritts zu ersuchen, wenn bis 19. Oktober keine Vereinbarung über den Brexit geschlossen wurde.
Die Parteimoral liegt brach
Es heißt, die auf die Niederlagen folgende gnadenlose Säuberungswelle, die im Parteiausschluss der Tory-Rebellen gipfelte, sei nicht von Johnson selbst ausgeheckt worden, sondern von seinem engsten Berater Dominic Cummings, dem vormaligen Chef-Strategen der "Leave"-Kampagne. Doch der Erfolg bleibt zweifelhaft. Denn so wurden auf einen Schlag Personen aus der konservativen Fraktion geworfen, die überaus geachtet waren. Etwa der seit 49 Jahren als Abgeordneter im Unterhaus sitzende Ken Clarke, der bis vor zwei Monaten noch amtierende Schatzkanzler Philip Hammond und Winstons Churchills weithin hochrespektierter Enkel Nicholas Soames. Insgesamt sah die Aktion mehr nach Jähzorn aus als nach der Stärkedemonstration, als die sie gemeint war.
Vor allem aber schürte es unter Tory-Abgeordneten den Zorn über das offenbar vor nichts zurückschreckende Regime, das Cummings in der Downing Street installiert hat. Zumal nicht alle der verbliebenen Loyalisten überzeugt sind, dass dessen ideologischer Purismus das Opfer der hauchdünnen Parlamentsmehrheit von Konservativen und DUP wert war. Denn nun fehlen auf die Mehrheit auf einmal mehr als 20 Stimmen.
Zur Verteidigung dieses Gemetzels verglich der von seinem Studium der Antike inspirierte Premier sich selbst mit Octavian, dem späteren Augustus. Die BBC befragte dazu den Historiker Tom Holland. "So wie Augustus behauptete, er habe die Republik zerstört, um sie wieder neu zu errichten", erklärte Holland, "könnte Johnson den liberalen Konservatismus zerstören, nur um dann zu sagen, dass er ihn wiederherstellt." Demzufolge plant Johnson also wohl, als Imperator den harten Brexit durchzuziehen und dann auf der Asche der Verwüstung - wenn’s sein muss auf Kosten des Friedens in Nordirland und einer Abspaltung Schottlands - seine Pax Britannica zu errichten. Aber selbst jenen, die in Johnson all ihre Wünsche projizieren, fällt es zunehmend schwerer, diesem verwirrt wirkenden Mann, der vor der Polizeischule von Wakefield hinter seinem Pult vergeblich um Worte rang, seinen oft behaupteten Weitblick und scharfen Intellekt anzudichten.
Vereitelter Wahlkampf
Wenn Donald Trump die Exekutive als Statisten für seine Verlautbarungen verwendet, versteht er wenigstens, mit energisch vorgestrecktem Kinn Entschlossenheit zu mimen. Johnson dagegen entglitt seine Machtgeste, als sich hinter ihm eine junge Polizistin wegen eines Schwindelanfalls niedersetzen musste. Wie üblich hatte der Premier sich schwer verspätet und die Doppelreihe von Uniformierten stundenlang in der prallen Spätsommersonne auf sich warten lassen.
Vor der martialischen Kulisse in Wakefield wurde endgültig klar, dass die Ereignisse längst nicht mehr nach Johnsons Plan laufen. Denn diese Rede hätte eigentlich der Startschuss zu seiner Wahlkampagne sein sollen, vor Ort im deindustrialisierten Norden Englands, wo Johnson mit seiner patriotischen Brexit-Botschaft proletarische Wahlkreise erobern will, um prognostizierte Verluste in Schottland und dem Remain-lastigen Süden wettzumachen.
Doch aus Wahlkampf wurde nichts, denn die von gefeuerten Tory-Rebellen verstärkte Opposition hat sich stattdessen geeinigt, Johnson die für eine Wahl nötige Zweidrittelmehrheit zu entsagen und ihn als lahme Ente ohne Mehrheit im Amt zu behalten. Denn spätestens seit dem Trick des Premiers, das Parlament für fünf Wochen auf Eis zu legen, will kaum noch jemand ein potenziell riskantes Manöver wie die Auflösung des Parlaments wagen. Nicht vor dem 1. November, dem Tag nach der einstweilen entschärften Brexit-Deadline. Bis dahin muss Johnson laut parlamentarischem Beschluss entweder einen neuen Austritts-Deal zur Abstimmung vorlegen oder bei der EU um eine Verlängerung der Artikel-50-Frist ansuchen. Er würde sich lieber zum Sterben in einen Graben legen ("die in a ditch"), als Letzteres zu tun, sagte Johnson in Wakefield. Um tags darauf hinzuzufügen, dass er gar nicht daran denke, vor einer Wahl zurückzutreten. Wie er diese beiden Schwüre unter einen Hut bringen will, das weiß niemand. Was hätte Kaiser Augustus getan?