Gerb will alternativ eine Minderheitsregierung versuchen.
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Sofia. Wer sein tagelanges Schweigen als Zeichen der Angeschlagenheit interpretiert hatte, sah sich beim ersten öffentlichen Auftritt von Boiko Borissow nach der Parlamentswahl getäuscht. Der Vorsitzende der rechtsgerichteten Partei "Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens" (Gerb) und ehemalige Ministerpräsident gab sich angesichts des Wahlausgangs vom Sonntag betont kämpferisch. "Egal, wie ich mir das Ergebnis anschaue, 97 ist mehr als 84 - sogar viel mehr", kommentierte er den Mandatsvorsprung seiner rechtsgerichtete Gerb gegenüber der zweitplatzierten "Bulgarischen Sozialistischen Partei" (BSP).
Die Bombe ließ er erst danach platzen: Der Urnengang soll für ungültig erklärt werden. "Unsere Partei ist wohl die erste in der jüngeren Geschichte Bulgariens, die als Sieger aus einer Wahl hervorgeht und das Verfassungsgericht um die Annullierung der Wahl anruft", sagte er auf der Pressekonferenz am Donnerstag. Den tatsächlich außergewöhnlichen Schritt begründete er mit dem Bruch des "Schweigegebots" durch die gegnerischen Parteien am Tag vor der Wahl.
Gemäß der bulgarischen Verfassung ist 24 Stunden vor dem Urnengang jegliche Wahlagitation verboten. Nachdem aber am Freitagabend in einer einem Gerb-Mitglied gehörenden Druckerei 350.000 Wahlzettel gefunden worden waren, haben Politiker mehrerer Parteien am nächsten Tag Gerb des Versuchs bezichtigt, die Wahlen zu manipulieren.
Während der Besitzer der Druckerei Multiprint die Wahlzettel als "technischen Ausschuss" bezeichnete, erklärte die Staatsanwaltschaft, es handle sich um für die Stimmabgabe geeignete Wahlzettel. Gerb bestreitet jegliche Verwicklung in die Wahlzettel-Affäre und wirft der Staatsanwaltschaft vor, sie habe sich "zur fünften politischen Kraft gemacht, deren Stellungnahme uns fünf bis sechs Prozent gekostet hat".
Am Wahlabend hatte Boiko Borissow die im Internationalen Pressezentrum des Nationalen Kulturpalastes (NDK) versammelten Journalisten und Wahlbeobachter vergebens warten lassen. Er werde sich erst äußern, wenn die Zentrale Wahlkommission (ZIK) das amtliche Endergebnis bekanntgeben habe.
Seine präzedenzlose Abstinenz am Wahlabend erscheint aus heutiger Sicht als kluge Strategie, denn aufgrund der verspäteten Auszählungen der Wahlergebnisse der im Ausland wählenden Bulgaren stand die Sitzverteilung bis gestern nicht endgültig fest. Erst jetzt ist klar, dass den 97 Abgeordnetensitzen von Gerb 143 Sitze der drei anderen Parteien gegenüberstehen und mit 120 Sitzen eine klassische Koalition aus BSP und der die Interessen der türkischen Minderheit vertretenden "Bewegung für Rechte und Freiheiten" (DPS) (36 Sitze) auch keine Mehrheit ergibt. BSP, DPS und die nationalistische "Ataka" (23 Sitze) haben alle erklärt, mit Gerb nicht koalieren zu wollen.
Einer Dreierkoalition mit dem Bündnis der politischen Erzfeinde DPS und Ataka erscheint ausgeschlossen, da Ataka DPS regelmäßig als eine verfassungsfeindliche, weil auf ethnischer Grundlage zusammengesetzte Partei bezeichnet.
In dieser wahlarithmetisch auswegslosen Situation hat BSP-Führer Sergej Stanilschew bereits am Wahlabend das Konzept einer aus Experten besetzten "Programmregierung" in den Raum geworfen. Dieser könnten auch Experten, die außerparlamentarischen Gruppierungen nahestehen, angehören. Doch selbst wenn sich im Parlament genügend Stimmen für die Duldung einer solchen Regierung unter Führung des sozialistischen Ex-Finanzministers Plamen Orescharski finden sollten, wäre ungewiss, wie lange sie Bestand hat.
Verfassungsgericht entscheidet
"Wenn Staatspräsident Rossen Plewneliew uns als stärkster Kraft das Mandat zur Regierungsbildung gibt, werden wir unsererseits eine aus Experten gebildete Minderheitenregierung im Parlament zur Wahl stellen", hat nun Borissow Stanischews Idee aufgegriffen. "Dies sind wir der über eine Million Bulgaren schuldig, die uns gewählt haben, selbst wenn wir wissen, dass wir nicht gewählt werden", meinte Borissow.
Er hofft erklärtermaßen, dass das Verfassungsgericht seinem Wunsch nach Annullierung der Wahl noch nachkommt, bevor der Präsident den zweitplatzierten Sozialisten das Mandat zur Regierungsbildung übertragen haben wird. Dann könne in einem Monat bis sechs Wochen gewählt werden. "Schlimmer wird es dadurch nicht werden. Schlimmer wäre eine prinzipienlose Regierung", findet Borissow. Da bisher stets von frühestmöglichen Neuwahlen im September, möglicherweise auch Parlamentswahlen zusammen mit den Europawahlen im Mai 2014 die Rede war, erscheint Borissows Zeitplan als gewagt.
Borissow engster Vertrauter, Ex-Innenminister Tswetan Tswetanow, der von der Staatsanwaltschaft verdächtigt wird, illegale Abhöraufnahmen von politischen Gegnern sowie Leuten aus den eigenen Reihen veranlasst zu haben, soll dem von Borissow zur Wahl gestellten Minderheitskabinett nicht als Minister angehören. Stattdessen soll Tswetanow seine Abgeordneten-Immunität freiwillig aufgeben, damit "die Wahrheit ans Tageslicht kommt, so wie sie ist", erklärte Boiko Borissow gestern vor Journalisten.