Doku offenbarte enorme Probleme mit Rassismus, Antisemitismus und Gewalt.
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Kiew. "Stay at home." Die Empfehlung des langjährigen Verteidigers der englischen Nationalmannschaft, Sol Campbell, an die Fans vor der EM 2012 war eindeutig und eindringlich: Bleibt daheim. Ein Journalist der BBC hatte Campbell für eine Sendung des Doku-Magazins "Panorama" interviewt und ihm erschreckende Szenen aus polnischen und ukrainischen Fußballstadien vorgespielt. Ein ganzer Fan-Sektor, der die rechte Hand zum Hitler-Gruß erhebt, antisemitische Sprechchöre, indische Studenten bei einem Match in Kharkiw, die von Hooligans zuerst gejagt und dann verprügelt werden.
Die Familien der beiden dunkelhäutigen englischen Spieler Theo Walcott und Alex Oxlade-Chamberlain haben daraufhin angekündigt, der Euro fernbleiben zu wollen. Sie haben Angst, in der Ukraine aus rassistischen Motiven attackiert zu werden. Angesichts des in der BBC-Dokumentation von den EM-Gastgebern gezeichneten Bildes überrascht diese Reaktion nicht. Doch wie nahe ist das Bild an der Wirklichkeit, wie gefährlich ist ein Besuch bei der Euro 2012?
Piara Powar, der Chef der in London ansässigen Organisation "Football Against Racism in Europe" (Fare), die in Kooperation mit der Uefa gegen Diskriminierung im Fußball kämpft und die EM-Ausrichter seit Jahren beobachtet, erinnert an die WM in Südafrika, vor der auch viele Schreckensberichte publiziert worden waren. Passiert ist bei der WM dann so gut wie nichts. "Allerdings gab es dort auch eine massive Polizeipräsenz", sagt Powar.
Die wird auch in Polen und der Ukraine zu erwarten sein, außerdem ist das Publikum bei einer einer Euro ein anderes als in den nationalen Ligen. "Es würde mich überraschen, wenn etwas in den Stadien passiert. Und wie in Südafrika ist auch zu erwarten, dass sich der nationale Stolz zeigt und sich Land von seiner besten Seite zeigen will", sagt Powar.
Die entscheidende Frage aber sei, was außerhalb der Stadien passiert. "Wenn Fans in die falsche Bar, ins falsche Viertel gehen, weiß man nicht, was passiert. Es wäre sorglos, zu sagen, es wird schon alles gut gehen." Denn im Gegensatz zu Südafrika, das damals das Thema Sicherheit sehr offensiv anging, deuten die in der BBC gezeigten Reaktionen öffentlicher Stellen sowie offizielle Reaktionen nach der Ausstrahlung daraufhin, dass die Probleme in der Ukraine schlicht weggeleugnet werden.
Ignoranz in der Ukraine
Ein Polizeisprecher aus Kharkiv deutete den kollektiv ausgeführten Hitler-Gruß als ein Zeichen in Richtung der gegnerischen Fans, und der ukrainische Turnierdirektor Markian Lubkiwsky bezeichnete die Aussagen von Campbell gar als "unverschämt". Es gebe keinerlei Gefahr für Fans aus anderen Ländern. Und Andrej Schewtschenko, der mit der Ukraine am Freitag in Innsbruck gegen Österreich spielen wird, sagte, dass Rassismus "kein Problem" in der Ukraine sei. "Das Land ist ruhig, die Menschen sind freundlich." Das ist sein Bild von der Ukraine, das Bild aus Sicht eines nationalen Sportidols.
Es ist die Ignoranz der offenkundigen Probleme in der Ukraine, die Powar Sorgen bereitet. "Wird die Polzei wegschauen, wenn etwas außerhalb der Stadien passiert?", fragt er. Polen ist da schon einen wichtigen Schritt weiter: "Es ist ein EU-Land und hat einen anderen Zugang zur Demokratie", sagt Powar. Auch für seine Organisation sei es wesentlich einfacher, in Polen Projekte durchzuführen. Das Problembewusstsein ist anders ausgeprägt, und es gibt Unterstützung von staatlicher Seite. "In der Ukraine ist es schwer, Gehör zu finden."
Dass die Euro helfen könnte, das Thema auch in der Ukraine in den öffentlichen Diskurs zu bringen, ist die Hoffnung von Fare. Dazu könne auch eine Sendung wie Panorama beitragen, glaubt Powar, auch wenn sie etwas einseitig und dramatisierend war. "Manchmal braucht es so etwas, um den Druck auf die nächste Ebene zu bringen."
Ob er, Powar, wie Campbell die Empfehlung an ethnische Minderheiten aussprechen würde, daheim zu bleiben? "Ich würde nicht sagen, dass es eine No-Go-Zone ist, aber wenn etwas passiert, kann es richtig schlimm werden. Außerhalb der Stadien kann man eben für nichts garantieren."