Wie Bürgermeister Andrea Costa in Luzzara gegen den Niedergang der Gemeinschaft ankämpft.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Andrea Costa, Bürgermeister von Luzzara in der Emilia-Romagna, hat zu Jahresbeginn ein "Boshaftigkeitsverbot" in seiner Gemeinde erlassen. Jede Äußerung von "Boshaftigkeit, Groll oder Wut" sei sowohl im öffentlichen Raum als auch in den sozialen Netzwerken untersagt. Costa will damit die Verrohung des Zusammenlebens aufhalten.
"Wiener Zeitung": Herr Bürgermeister, meinen Sie Ihr Verbot ernst?
Andrea Costa: Natürlich. Die Verordnung ist ein legitimer Verwaltungsakt. Ich stelle seit einiger Zeit fest, dass im Hinblick auf den Umgang miteinander alle Dämme gebrochen sind. Jede Art von verbaler, aber oft auch physischer Aggression sind Tür und Tor geöffnet. Während die meisten Menschen bis vor einiger Zeit noch eine innere Schranke hatten, die nicht übertreten wurde, drischt man heute einfach verbal auf die Mitmenschen ein.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, dazu eine Verordnung zu erlassen?
Ich denke schon seit einiger Zeit darüber nach, weil ich gemerkt habe, dass in Italien der Umgang miteinander immer rücksichtsloser wird. Da spielen auch die sozialen Netzwerke eine Rolle, wo man kein echtes Gegenüber mehr hat, dem man die Dinge ins Gesicht sagt, sondern quasi anonym agieren kann.
Was war der Gesetzes-Auslöser?
Die Neujahrsansprache des italienischen Staatspräsident Sergio Mattarella, in der er über die trennende Kraft der Angst spricht und den notwendigen Zusammenhalt in einer Gesellschaft anmahnt, hat mich tief bewegt. Auch die Worte von Papst Franziskus rüttelten mich auf. Ich selbst war ja auch nicht frei von dieser ansteckenden Krankheit.
Inwiefern?
Ich habe den Innenminister und Chef der Lega, Matteo Salvini, auf Twitter als "Clown" und "gefährlichen Idioten" bezeichnet. Das war ein Fehler, für den ich mich entschuldige. Aber dieser Fehltritt hat mir gezeigt: Wenn schon so jemand wie ich sich anstecken lässt, wie muss es da anderen ergehen?
Aufsehenerregend sind die Strafen, die sie für Verstöße gegen die Verordnung vorsehen: Lektüre von Büchern, Ansehen von Filmen, Besuche von Museen und Gedenkstätten oder ehrenamtliche Arbeit.
Ein Verstoß soll ja keine Bestrafung zur Folge haben, sondern einen Weckruf. Wer verbal aggressiv wird, ist eigentlich ein Opfer, dem geholfen werden muss. Also haben wir unter anderem "Wer die Nachtigall stört" von Harper Lee, "Papa, was ist ein Fremder?" von Tahar Ben Jelloun, "Ich zähmte die Wölfin" von Marguerite Yourcenar, "Ist das ein Mensch?" von Primo Levi oder "Die Einsamkeit der Primzahlen" von Paolo Giordano gewählt.
Sie sehen auch Filme als Sanktionen vor?
Ja, Verstöße können auch mit dem Ansehen der Filme "Das Leben ist schön" von Roberto Benigni, mit "Philadelphia" mit Tom Hanks und Denzel Washington, dem Animationsfilm "Alles steht Kopf" oder "Citizen Kane" von Orson Welles geahndet werden.
Was wäre der Nutzen der Lektüre oder des Ansehens eines dieser Werke?
Die Bücher und Filme vermitteln Werte wie Toleranz, Solidarität, Beharrlichkeit, das Meistern großer Herausforderungen und die Bedeutung von Mitmenschlichkeit. Es waren bildende Werke, auch für mich.
Unter den Strafen ist auch die Besichtigung ausgewählter Kunstwerke vorgesehen, warum?
Wer die Laokoon-Gruppe in den Vatikanischen Museen, Michelangelos Pietà Rondanini in Mailand oder die Giotto-Fresken in Padua ansieht, wird Zeuge großer "bellezza". Schönheit gehört zum Menschen und ist einer der Schlüssel dafür, ins Gleichgewicht zu kommen. Wer die Schönheit in sein Leben lässt, für den ist es schwieriger, ein boshafter Mensch zu sein.
Sie sprechen wie ein Philosoph und nicht wie ein Politiker.
Wahrscheinlich haben wir alle ein degeneriertes Bild von Politik im Kopf. Politik ist dazu da, Ideale hochzuhalten. Meine Gemeinde hat mir ein zeitlich begrenztes Mandat erteilt, das ich auch in diesem Sinne nutzen möchte. Es geht nicht nur darum, Löcher im Asphalt zu stopfen oder die Straßenbeleuchtung instand zu halten, sondern auch den zivilen und moralischen Niedergang aufzuhalten. Meine Aufgabe ist, mich um die Seelen meiner Gemeinde zu kümmern!
Das war doch einmal die Aufgabe von Priestern . . .
Wissen Sie, es geht um eine kollektive Verantwortung. Ich bitte meine Mitbürger um Mithilfe. Nicht der Bürgermeister, sondern die Gemeinschaft ist aufgerufen, sich der Verrohung entgegenzustellen.
Wie waren die Reaktionen auf die Verordnung?
Ich habe tausende Nachrichten und Glückwünsche bekommen. Ich würde mich freuen, wenn andere Gemeinden die Verordnung übernehmen würden. Schließlich handelt es sich um eine weltweite Dynamik. Die Wut der Bürger wird immer größer, dazu trägt die Ungleichheit bei. Das Problem ist, dass die Politik zur Eskalation beiträgt, indem sie Aggressivität legitimiert.
Was schlagen Sie als Lösung vor?
Natürlich löst man mit der Betrachtung einer Skulptur kein Problem wie die Arbeitslosigkeit. Aber ich stelle mich gegen die Lösung, wie sie landauf, landab vorgetragen wird: andere attackieren und Feindbilder schaffen. Stattdessen müssen wir uns zusammentun und Lösungen für die Probleme finden.