Am 5. Oktober wählt das Volk von Bosnien-Herzegowina eine neue Präsidentschaft, die wiederum den zweigeteilten Staat mit seinen drei Ethnien repräsentieren und regieren soll. Dieses Volk ist derzeit geprägt von dem Bild einer auf den Straßen und in Kaffeehäusern präsenten, scheinbar sorglosen Jugend, die keinerlei Perspektiven für ihre individuelle Zukunft sieht, und von alten Menschen, die in ihrer Mehrheit unterhalb eines "normalen" Existenzniveaus vegetieren. Und von teuren Autos, die vermutlich Angehörigen der Mafia gehören. Wie kann hier Bürger-Bewusstsein entstehen, das die Voraussetzung ist für eine Demokratisierung der politischen Landschaft und der Gesellschaft überhaupt?
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Im Taxi nimmt der Fahrgast Platz neben dem Fahrer. Weil er, der Taxifahrer, nicht angeschnallt ist, frage ich nach dem Grund dafür - die Antwort: "Die Polizei hat die Verpflichtung für uns aufgehoben, nachdem wiederholt Taxifahrer mit ihrem Gurt von hinten erdrosselt wurden..." Nach diesem ersten Eindruck dann die Zeitungen: Fast ausschließlich Berichte über Morde, Korruption vor allem von Politikern, Insolvenzen, Verkehrsunfälle und andere Katastrophen. Kaum ein Text der Reflexion, oder eines Hintergrundes, kaum mehr als Schlagzeilen aus anderen Ländern. Ziemlich trostlos also. Schließlich fallen dem Gast in Bosnien-Herzegowina die vielen schrägen Übergänge von Stufen, von Gehsteigen auf - offenbar eine Rücksicht auf die Rollstühle der zahlreichen Invaliden des Krieges 1992-95.
Vieles ist in Sarajewo, auch in anderen Städten neu gebaut worden, vieles aber steht unberührt zerstört seit Kriegsende. Entlang der Hauptstraßen durch das Land noch immer reihenweise die schwärzlichen Ruinen der von Granaten zerschossenen kleinen Häuser, sie können nicht abgetragen, nicht wieder aufgebaut werden, weil das Terrain voller Minen ist - sieben Jahre schon ist das so.
Fabrikshalle als Oase
Dann plötzlich eine Oase "heiler Welt". In dem kleinen Ort Begovi Han, nicht weit von Zenica - eine neue Fabrikshalle, hell, sauber, luftig: An 18 Arbeitstischen arbeiten 18 junge Frauen und stellen Arbeitskleidung für Krankenhauspersonal her. "Die Löhne werden regelmäßig bezahlt", das ist die wichtigste immer wiederkehrende Aussage von Arbeitern und Arbeitgebern dieses Musterprojektes. Die Höhe des Lohnes ist weniger wesentlich als die Sicherheit - ein Segen, der heute nur ganz wenigen in B-H zuteil wird.
In Begovi Han fanden furchtbare Kämpfe während des Krieges statt, fast alle überlebenden Bewohner flohen. Manche konnten in ein westeuropäisches Land, vor allem nach Schweden. Nachbarn und Verwandte arbeiteten dort schon seit Jahrzehnten. Mit ihrem Geld, ihrem Know-how wurde die kleine Textilfabrik aufgebaut, der Ort besitzt heute einen Kindergarten, eine Volksschule, alles ganz neu und von den zurückgekehrten Einwohnern selbst errichtet. Insgesamt wurden etwa 50 Arbeitsplätze geschaffen - ohne Bankkredite, ohne Schulden. Eine schwedische Firma übernahm das Marketing und platziert die Produktion auf dem Weltmarkt.
Bürokratie als Hindernis
Sorgen aber bereitet den Rückkehrern die Gemeindepolitik. Ständig wird die Prosperität des Ortes mit neuen Auflagen, noch höheren Steuern behindert. Das bedeutet einen täglichen Clinch mit den lokalen politischen Machthabern. Für Begova Ban ist es offenbar klar: Die Wahlen müssen zu einer entscheidenden Schwächung der führenden Parteien führen, sie alle sind nach wie vor nationalistisch, ihre Funktionäre haben nichts als die eigene Macht im Sinne - an das Volk denke keiner. Das hört man hier - und in vielen Variationen aus allen Schichten der Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina.
Vor allem ist die Verbitterung darüber groß, dass die internationalen Organisationen sich einerseits massiv in die "inneren Angelegenheiten" dieses zerrütteten Staates einmischen, andererseits aber nicht verstehen, was die Menschen wirklich brauchen: Perspektiven. Ohne Arbeitsplätze, ohne soziale Unterstützung, ohne Pensionen, die dem lebenslangen individuellen Arbeitseinsatz entsprechen, ohne Unterstützung für die unzähligen Kriegsopfer gibt es kein Vertrauen in den Staat.
Es ist ein circulus vitiosus - der Westen verlangt die Rechtsstaatlichkeit, d.h. eine Stärkung der staatlichen Institutionen und Funktionen, nicht zuletzt im Bereich der Wirtschaftspolitik, erst dann kämen die lebensnotwendigen Investitionen aus dem Ausland. Gleichzeitig bleibt mit dieser investitions-restriktiven Politik des Westens die Produktion auf der Strecke, ohne deren Steuerabgaben, ohne deren Arbeitsplatzbeschaffung, ohne deren kreative Initiativen der Staat nicht von innen gestärkt werden kann.
"Niemand lässt uns"
Hoffnungslosigkeit auf der einen und Desinteresse auf der anderen Seite hat die Bevölkerung tagtäglich vor Augen: Die vielerorts in Bosnien-Herzegowina seit Kriegsende vor sich hin rostenden ehemals gigantischen Industrieanlagen, die zu Titos Zeiten 20.000 bis 30.000 Beschäftigten zumindest einen mageren Lohn, Sozialversicherung und einen festen Tagesplan lieferten - heute sind sie (Un-)Sinnbilder einer nicht existenten Wirtschaftspolitik .
Ein Blitzbesuch genügte, um wiederholt von vielen unterschiedlichen Menschen die Klage zu hören: "Warum lässt man uns nicht aus diesen Ruinen etwas nützliches machen? Wir könnten kleine Werkstätten daraus bauen, Lagerräume, Fabrikshallen, alles mögliche könnten wir daraus machen. Aber niemand lässt uns, niemand will, dass wir uns selbst auf die Beine helfen..."
Geholfen wird hingegen den umliegenden Ländern. Was nicht produziert werden darf in B-H, wird importiert aus Kroatien, aus Ungarn, auch aus Serbien und Slowenien - das hat Strukturen geschaffen, die tatsächlich kein Interesse daran haben, diese Situation zu ändern.
Problem Rückkehrer
Über viele Probleme wird heute in der Öffentlichkeit geschrieben und diskutiert. Zu einem Problem aber scheint jeder kritische Kommentar zu fehlen: Die große Problematik der Rückkehrer. Die lokalen politischen Strukturen und die internationalen Vertretungen brüsten sich mit Statistiken darüber, wie viele Rückkehrer im Jahr 2000, im Jahr 2001 - und hoffentlich noch mehr 2002 - registriert wurden.
Wenn es auch nur bescheidene Zahlen z.B. in der Republika Srpska sind, so zählen auch sie als Pluspunkt gegenüber den internationalen Organisationen, die Rückkehr und multiethnischen Aufbau der Regionen fordern als Voraussetzung für die engeren Beziehungen zur verheißungsvollen EU. Dass die zurückgekehrten Muslime und Kroaten zwar in den meisten Fällen ein Dach über ihre Köpfe vorfinden, aber weder Arbeit noch sonst etwas, was ein Leben ermöglicht - das interessiert weder die Einen noch die Anderen. Auch nicht, dass es fast nur alte Leute sind, die gekommen sind, um in der "Heimaterde" begraben zu werden.
Nur eine Seite triumphiert über diese Entwicklung: Die politische Elite, die Vertreter der nationalistischen Parteien. Die Rückkehrer sind ihre sicheren Wähler. Wo diese Menschen der Mehrheitsbevölkerung angehören, werden sie, wie auch bei den bisherigen Wahlen, lieber auf die Partei setzen, die die Macht schon besitzt, als das Risiko einer oppositionellen Partei eingehen. Wo die Rückkehrer in der Minderheit sind, werden sie ebenso lieber diejenigen wählen, die die lokale Macht vertreten. Von Demokratie, von Bürger-Bewusstsein weiß hier keiner etwas. (Die urbanistische Bevölkerung bietet da eher eine Hoffnung.)
Partei für Zivilcourage
Eine kleine Partei jedoch, die keine Chance hat, an "die Macht" zu gelangen, hat sich eben diese Aufgabe der demokratischen Erziehung gesetzt. Sie nennt sich "Bürgerliche demokratische Partei" (gradjanska demokratska partija). Ihr Gründer und Vorsitzender, der 50-jährige, unglaublich kontaktfreudige Ibrahim Spahic, fährt unermüdlich durch das ganze Land - über alle internen Grenzen - und betreibt Aufklärung. Wo immer zwei Menschen beisammen stehen oder sitzen, Ibrahim spricht sie an, fragt nach ihren Problemen: Der Taxifahrer spricht von Schikanen der lokalen Machthaber seiner Zunft gegenüber, der Kellner mit einem sozialpolitischen Diplom aus Belgrad musste dem lokalen Dekan (B-H hat in fast jedem seiner elf Kantone eine eigene Universität) 1.000 DM zahlen, damit es hier anerkannt wird. Das neuerliche Zusammenleben aller Menschen, unabhängig von Religion, nationaler oder Partei-Zugehörigkeit, wie es sich offensichtlich die überwiegende Mehrheit wünscht, wird bis ins kleinste Detail auf lokaler, auf Gemeinde-, auf staatlicher Ebene behindert von den partei- oder religionspolitischen Strukturen.
Ibrahim erklärt den Betroffenen: Wehrt Euch, werdet Euch Eurer Rolle als Bürger in diesem Staat bewusst, lasst die Korruption in Eurer Umgebung nicht zu. Diskutiert untereinander, was Ihr erlebt, Schweigen und Verschweigen sind destruktiv in unserer Gesellschaft. Fordert die Anderen zum Gespräch, zur verbalen Auseinandersetzung auf.
Die Menschen hören ihm sehr aufmerksam zu. Ibrahim Spahic verspricht mit keinem Wort "wenn ich zur Macht komme, dann..." Er lehrt demokratisches Verhalten - ganz pragmatisch, ganz volksnah. Ihm persönlich wird sein Einsatz bei dieser Wahl kaum Nutzen bringen, aber er ist unentbehrlich für den Fortschritt des politischen Bewusstsein der Bürger in B-H.
Noch ein Nachsatz: Sonntag, den 25. August, fand in Mostar die feierliche Wiederaufnahme des traditionellen "Skakanje" statt. Im Beisein von Tausenden im wesentlichen jungen Menschen, von in- und ausländischen TV-Teams, wagten mehr als 60 junge Menschen zwischen 15 und 35 Jahren den waghalsigen Sprung in die Neretwa, mit Kopf oder Füssen zuerst. Unter ihren Namen waren solche moslemischer, serbischer und kroatischer Herkunft. Es war ein überwältigendes Szenario auf beiden Seiten der Ufer dieser geteilten Stadt, die nach dieser Manifestation zweifellos in einer nicht allzu fernen Zukunft wieder zueinander finden wird. Mit neuen, jüngeren Politikern an allen Spitzen des Staates.