Seit 50 Jahren bestimmt die "Charta von Venedig" die Grundlagen der Denkmalpflege. Was besagt diese Charta und wie kam es zu ihrer Bedeutung? Eine Recherche.
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Im Mai des Jahres 1964 fand in Venedig ein "Internationaler Kongress der Architekten und Denkmalspfleger" statt, der in die Geschichte des Städtebaus und der Denkmalpflege eingegangen ist. (Zur Klärung: Als "Denkmalpflege" bezeichnet man, laut Wikipedia, "die geistigen, technischen, handwerklichen und künstlerischen Maßnahmen, die zur Er- und Unterhaltung von Kulturdenkmälern erforderlich sind". Der Begriff "Denkmalschutz" dagegen bezieht sich lediglich auf "die rechtlichen Anordnungen, Verfügungen, Genehmigungen, Auflagen oder Untersagungen, die Denkmalpflege sicherstellen".)
Die Tagung in Venedig befasste sich also mit dem weiteren Feld der Denkmalpflege, und es wurde eine Charta verabschiedet, deren Ziel darin bestand, die Prinzipien der "Konservierung und Restaurierung von Denkmälern und Ensembles" zu definieren und somit für die Praxis der Denkmalpflege handhabbar zu machen.
Der Geist der Charta
Dieses Ziel wurde erreicht. 1965 wurde in Warschau das "International Council on Monuments and Sites" (ICOMOS) gegründet. Diese Unterorganisation der UNESCO kämpft seither weltweit um die Bewahrung des Kulturerbes, und sie orientiert sich dabei an der Charta von Venedig, die dadurch zum Grundlagentext der Denkmalspflege geworden ist.
Die knapp vier Seiten lange Charta, zu deren Qualitäten auch ihr prägnanter Stil gezählt wird, beginnt mit einer grundlegenden Präambel: "Als lebendige Zeugnisse jahrhundertealter Traditionen der Völker vermitteln die Denkmäler in der Gegenwart eine geistige Botschaft der Vergangenheit. Die Menschheit, die sich der universellen Geltung menschlicher Werte mehr und mehr bewusst wird, sieht in den Denkmälern ein gemeinsames Erbe und fühlt sich kommenden Generationen gegenüber für ihre Bewahrung gemeinsam verantwortlich. Sie hat die Verpflichtung, ihnen die Denkmäler im ganzen Reichtum ihrer Authentizität weiterzugeben."
Hier wird ein globaler Anspruch formuliert: Es geht nicht darum, eine bestimmte Kultur für schützenswerter anzusehen als eine andere. Stattdessen werden Denkmäler aufgefasst als immerwährender Besitz der gesamten Menschheit, und zwar der gegenwärtigen wie der zukünftigen. Damit sind nationale Alleingänge ausgeschlossen.
In diesem weit gesteckten Rahmen entwirft die Charta dann ihre Konzeption vom Denkmal. Sie definiert alle jene Baudenkmäler als schutzwürdig, die als "lebendige Zeugnisse jahrhundertealter Traditionen der Völker" gelten können.
Dieses Verständnis vom Denkmal als einem "lebendigen Zeugnis", das eine "geistige Botschaft der Vergangenheit" übermittelt, ist für die Argumentation der Charta von zentraler Bedeutung. Denn im Sinne dieser Definition werden nicht nur einzelne Bauten oder Artefakte als schützenswert eingestuft, sondern auch die Umgebungen der Denkmäler, sofern auch sie von einer kulturellen oder historischen Entwicklung "Zeugnis ablegen". Woraus sich ergibt, dass die Charta nur in Ausnahmefällen zulässt, dass Denkmäler "transloziert", also an einen anderen Ort verschoben werden.
Was für die Umgebung des Denkmals gilt, stimmt analog für die Gestalt des Bau- oder Kunstwerks: Sie muss möglichst "authentisch" sein, wenn ihr "Zeugnis"-Charakter gewahrt bleiben soll. Aus diesem Grund hegen die Verfasser der Charta eine deutliche Skepsis gegen Eingriffe aller Art. Die Restaurierung, also die Wiederherstellung eines beschädigten Urzustands, ist gestattet, aber nur unter genau formulierten Bedingungen. Die Rekonstruktion, also der komplette Wiederaufbau zerstörter Werke und Bauten, wird hingegen als sehr fragwürdig eingestuft.
Ein modernes Konzept
Denkmalpflege im Geist der Charta beschränkt sich also auf die Sicherung des Vorhandenen. Unvermeidliche Eingriffe müssen deutlich erkennbar sein. Dieser seriöse Umgang mit dem historischen Erbe weist die Charta als genuines Dokument der Moderne aus. In den Anfangszeiten der Denkmalpflege, also im 19. Jahrhundert, wurden viele ruinierte Gebäude komplett wieder errichtet, und es kam dabei durchaus nicht auf Authentizität an. Der Soziologe Robert Schediwy hat dieser Tendenz der Denkmalpflege ein lesenswertes Buch gewidmet. Dort ist etwa zu erfahren, dass der Kölner Dom, der Jahrhunderte lang unfertig dastand, im 19. Jahrhundert vollendet wurde, als ob sich die historische Distanz zwischen Gotik und Neo-Gotik mühelos überspringen ließe.
Diese Praxis erregte allerdings bald den Unmut der Wissenschaft. Schon 1851 plädierte der englische Kunsthistoriker John Ruskin in seinem Buch "The Stones of Venice" dafür, die Lagunenstadt in Würde altern zu lassen - d.h. also, die Denkmalpflege auf die Erhaltung der Bausubstanz zu beschränken, und auf jede nachträgliche Verschönerung zu verzichten. Dieser Vorstellung folgte später der Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl, der an einem Denkmal vor allem den unverfälschten "Alterswert" schätzte. Und sein deutscher Fachkollege Georg Dehio fasste dieselbe Haltung in den markanten Satz: "Den Raub der Zeit durch Trugbilder ersetzen zu wollen, ist das Gegenteil von historischer Pietät."
Das ist die Tradition, in der die Charta steht, die 1964 in jener historisch wertvollen Stadt beschlossen wurde, der schon Ruskin seine "Stones of Venice" gewidmet hat.
Und heute?
Auch 50 Jahre nach ihrer Entstehung gilt die Charta den meisten Denkmalspflegern noch als verbindliche Richtschnur. Die Fachwelt hatte also allen Grund, den Geburtstag dieses Dokuments würdig zu feiern. Unter anderem fand im Oktober ein mehrtägiges internationales Symposium im Wiener Museum für Angewandte Kunst statt, das die Entstehung und die Auswirkungen der Charta wissenschaftlich untersucht hat.
Der Organisator dieser Tagung ist Bernd Euler-Rolle, der Fachdirektor des Österreichischen Bundesdenkmalamts. Dieser 1957 geborene Kunsthistoriker, Mitglied von ICOMOS, erklärt nun die heutige Bedeutung der Charta:
Wiener Zeitung:Die Charta von Venedig ist seit fünfzig Jahren in Kraft. Sehen Sie in diesem Zeitraum Fortschritte im Denkmalschutz, die eindeutig auf den Einfluss der Charta zurückzuführen sind?Bernd Euler-Rolle: Die Charta von Venedig gibt der gesamten Denkmalpflege großen Rückhalt. Es sind grundsätzliche Orientierungen, die wie Leitplanken die Richtung der Denkmalpflege vorgeben und anleiten. Die Charta ist in den 50 Jahren ihrer Existenz so etwas wie soft law geworden; sie ist ein commitment. Sie hat an ihrer grundsätzlichen Gültigkeit nichts verloren und ist zum Mutterdokument aller nachfolgenden Konventionen, Richtlinien etc. geworden.
Gibt es wesentliche Bereiche in der Denkmalspflege, die in der Charta nicht vorkommen?
Wenn man die Charta von Venedig genau liest, lassen sich darin im Grunde genommen alle Perspektiven des kulturellen Erbes wiederfinden bzw. subsummieren. Aus ihrer Entstehungszeit 1964 ist es verständlich, dass verschiedene Aspekte allerdings nicht bzw. noch nicht ausgeführt sind. Das gilt zum Beispiel für städtebauliche Denkmalpflege, Fragen des Ensembles, historische Park- und Gartenanlagen oder die sozialen Bezüge der Denkmalwerte. Das ist in verschiedenen internationalen Nachfolgedokumenten behandelt worden. Das sind zumeist Erweiterungen und keine Widersprüche; außer man bezieht sich missbräuchlich auf die Charta von Venedig wie im "Wiener Memorandum" von 2005 zur libertären Weiterentwicklung des Stadtraums.
Beim Thema "Rekonstruktion" formuliert die Charta sehr strenge Einschränkungen. Trotzdem sind in den letzten Jahrzehnten viele Rekonstruktionen entstanden, die Dresdener Frauenkirche ist ein bekanntes Beispiel. Ist das ein Verstoß gegen den Geist der Charta?
Rekonstruktionen entsprechen tatsächlich im Großen und Ganzen nicht dem Geist der Charta von Venedig. Ausdrücklich behandelt wird das Thema allerdings ausschließlich im Zusammenhang mit archäologischen Stätten. Wie oft bei der Charta von Venedig muss man auch querlesen und dann findet man Wiederherstellungen in gewissem Maße nicht ganz ausgeschlossen, sofern sie sich auf authentische Dokumente gründen und keine Hypothese sind. Es hängt also wie immer in der Denkmalpflege von den Voraussetzungen ab. Bei der Frauenkirche in Dresden waren die Voraussetzungen einigermaßen gegeben, beim umgebenden Neumarkt nicht im geringsten. Das Problem mit der Frauenkirche ist weniger sie selbst, als vielmehr die unreflektierte Vorbildwirkung; und der Verlust der Trümmerstätte als Mahnmal und Erinnerungsort für die Zerstörung Dresdens im Zweiten Weltkrieg. Der Streit um die Rekonstruktionen hängt speziell mit der deutschen Nachkriegsgeschichte zusammen. Aber die Charta von Venedig sollte dazu führen, dass man sich besinnt.
Mehr unter: www.bda.at, dort auch die Charta im Wortlaut.Zum "Wiener Memorandum" vgl. www. wien.gv.at/stadtentwicklungLiteraturtipp: Robert Schediwy: Rekonstruktion. Wiedergewonnenes Erbe oder nutzloser Kitsch? LIT Verlag, Wien 2011. Hermann Schlösser, geboren 1953 in Worms, ist Redakteur des "extra" der Wiener Zeitung. Mehrere Publikationen zum Thema Stadt und Stadtkultur.