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Bound by Law: Wie sich Juristen selbst einsperren

Von Anja Melzer

Recht
: IT

Jus entzieht sich als eines der letzten Studienfächer dem europäischen Vergleichbarkeitsgebot. Zu unterschiedlich sind die Gesetzbücher. Doch wie durchlässig sind die Grenzen zu unseren nächsten Nachbarn wirklich?


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Wien. Deutschland, Österreich und der berüchtigte Numerus clausus - das ist eine mit reichlich Problemen und Ressentiments belastete Dreiecksbeziehung. Vor allem in österreichischen Medizin-Hörsälen ist das Wehklagen ob des Deutschenanteils laut. Weniger bekannt ist, dass auch angehende deutsche Juristen in die Alpenrepublik ausweichen. Denn auf den ersten Blick sieht das Vorhaben nicht gerade zielführend aus: Während sich chirurgische Schnittmethoden international kaum unterscheiden dürften, sehen Gesetzesbücher überall anders aus.

Schuld ist eine der gefürchtetsten Prüfungen des deutschen Ausbildungssystems überhaupt: das juristische Staatsexamen. In fünf Stunden muss der komplette Studieninhalt der letzten Jahre abrufbar sein. Wer zweimal nicht besteht, ist raus, ohne Abschluss - und darf auch nicht noch einmal antreten. Gibt es dann noch irgendeine Chance? Testanrufe bei den Fachstudienberatungen diverser deutscher Universitäten ergeben: Unter den genannten Alternativen befindet sich auch eine, die da lautet: Abschluss nachholen in Österreich. Aber funktioniert das in der Praxis?

Universitäten geben sich verschlossen

Die Recherche zu dieser Frage gestaltet sich schwierig, die meisten Interviewpartner stöhnen bereits, sobald sie die Fragen hören. Bei der Uni Salzburg zum Beispiel, die gerüchteweise als Hochburg für deutsche Plan-B-Juristen gilt, ist man sogar so wenig erfreut, über Staatsexamens-Flüchtlinge Auskunft zu geben, dass die Dame im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" just den Telefonhörer auflegt. Die Uni Linz ist offener: Im Fach Jus waren hier im Sommersemester insgesamt 165 Deutsche gemeldet. Das ist eine vergleichsweise hohe Zahl, wenn man bedenkt, dass man mit einem österreichischen Jus-Abschluss erst einmal sehr wenig in der Heimat anfangen kann.

Doch der zweite Blick bringt Klarheit. Linz lockt mit einem Angebot, das es so in Österreich nirgends gibt: Die Uni bietet ein Multimedia-Studium an. Das bedeutet, dass man persönlich gar nicht anwesend sein muss und den Vorlesungen über Internet-Streams lauschen kann, Prüfungen können bei Notaren oder Botschaften abgelegt werden.

Wie rigoros im deutschen Jusstudium ausgesiebt wird, ist vielen Österreichern gar nicht bewusst. Ein bayerischer Strafverteidiger (57) erinnert sich an seinen Jahrgang im Herbst 1981 an der Uni Passau: "Inskribiert haben damals circa 700 Studierende, davon sind fünf Jahre später aber überhaupt nur 150 zum Ersten Staatsexamen zugelassen worden - und nur die Hälfte hat im ersten Anlauf bestanden." Im Spätsommer 1989, als das Zweite Staatsexamen anstand, schieden noch einmal 25 aus. Es blieben: 50 Volljuristen von ursprünglich 700 Anwärtern.

Diese drastischen Durchfallquoten haben sich bis heute kaum geändert. Im Schnitt fällt in Deutschland jeder Dritte durch. In Bayern zum Beispiel belief sich die Misserfolgsquote im vergangenen Jahr auf knapp 36 Prozent. Das heißt: Von 2659 angetretenen Teilnehmern scheiterten ganze 957. Nur vier erhielten ein "sehr gut". Im Zweiten Staatsexamen wurde sogar nur ein einziger bayerischer Einser vergeben.

Einer, der weiß, wie es ist, zu scheitern, und der sich den Abschluss über den österreichischen Umweg erkämpfte, ist Phillip Mollenhauer (34), der heute in München lebt. Damals brach für ihn die Welt zusammen, 2013 hat er seine Erfahrung in eine Geschäftsidee verwandelt: In seinem Beratungsangebot "Staatsexamen Plan B" erarbeitet er mit Betroffenen neue Alternativen. Knapp 60 Prozent derer, die sich an ihn wenden, entscheiden sich für ein weiteres Jusstudium in Österreich, schätzt er: "Man darf aber nicht denken, dass man in Österreich irgendetwas geschenkt bekommt. Das Niveau ist hoch." Der Prüfungsdruck sei jedoch entzerrter, die Bedingungen seien fairer: Es existiert kein Staatsexamen, abgeschlossen wird mit der Magisterarbeit. Statt der XXL-Prüfung am Ende gibt es gleichmäßig verteilte Klausuren.

"Das Jusstudium noch einmal in Österreich zu wiederholen ist hart, aber machbar", sagt auch Katrin Bayerle von der Studienfachkoordination an der renommierten Münchener Ludwig-Maximilians-Universität. Auch zu ihr kommen die Verzweifelten. "Man muss ehrlich sein: Der Weg übers Ausland ist extrem abschreckend." Zwar biete sich Österreich aus sprachlichen Gründen an, denn Jus lebt von der Sprache, die Lebenshaltungskosten seien niedriger als etwa in der Schweiz und die Gesetzeslage grundsätzlich ähnlich. Aber der Aufwand sei enorm: "Man verliert so viel Lebenszeit und gewinnt so wenig Sicherheiten, eigentlich ist das nur etwas für Menschen, die am Ende sowieso in der Kanzlei von Mama oder Papa aufgefangen werden."

EU-Abschlüsse werden in Deutschland prinzipiell anerkannt. Aber ins Rechtsreferendariat - die Praxisausbildung, um Anwalt, Richter oder Staatsanwalt zu werden - kommt man damit noch nicht. Dazu muss man erst eine Anerkennungsprüfung bestehen - und die entspricht wiederum dem Ersten Staatsexamen. Daran kommt also niemand vorbei, der mit einem ausländischen Abschluss nach Deutschland will. Es folgen die Jahre im Referendariat, dann das Zweite Staatsexamen.

Einmal Österreich undnicht mehr zurück

Oder aber man bleibt gleich ganz in Österreich. Der Beruf des Richters oder Staatsanwalts ist zwar nur österreichischen Staatsbürgern vorbehalten, außerdem wartet das Land mit der längsten Rechtsanwaltsausbildung in ganz Europa auf - sie dauert sogar doppelt so lange wie in Deutschland. Trotzdem hat Mollenhauer von "Plan B" beobachtet: Gerade diejenigen seiner Schützlinge, die es nach Wien verschlägt, um ihren Traum von der Juristerei doch noch wahr werden zu lassen, kehren häufig gar nicht mehr zurück.

Seit Jahren tobt in Europa der Kampf zwischen Befürwortern und Gegnern des Bologna-Systems, das ja ursprünglich dazu gedacht war, Abschlüsse international vergleichbar zu machen. In den Rechtswissenschaften gilt das aber nicht. Während in Deutschland ein Master of Laws (LL.M.) noch immer als "Schmalspurjurist" verschrien ist und nicht zum Volljuristen qualifiziert, ist ein LL.M. in Österreich dem Magister gleichgestellt und kann jeden Rechtsberuf ergreifen. Jus-Master kommen hier bisher nur von der Wiener Wirtschaftsuni. Der Abschluss scheint derart attraktiv, dass die Zahl der Jusstudierenden im letzten Wintersemester kurioserweise sogar die der Wirtschaftler überwog. Trotzdem sei die Abbruchquote im Wirtschaftsrecht hoch, heißt es von der WU. Auch an der Sigmund-Freud-Privatuniversität kann man seit 2016 auf Bachelor-Master studieren - für schlappe 8000 Euro pro Semester. Bereits jetzt klopften Großkanzleien an und rekrutierten künftige Absolventen, lässt die Institution wissen.

Für Österreicher gilt grundsätzlich: Als Unternehmensjurist, der etwa in der Rechtsabteilung eines Konzerns arbeitet, kann man unkompliziert die beruflichen Staatsgrenzen wechseln, als Richter oder Staatsanwalt ist es nahezu unmöglich.

Von Schruns-Tschaggunsnach Castrop-Rauxel?

Doch einmal angenommen, einen längst etablierten Rechtsanwalt aus dem vorarlbergischen Schruns-Tschagguns trifft unvorhergesehen Amors Pfeil und er verliebt sich ins westfälische Castrop-Rauxel, geht das denn einfach so? "Einfach nicht, aber so etwas geht", sagt die zuständige Landesjustizprüfungsstelle. Es sind seltene Fälle. Die EU-Datenbank der reglementierten Berufe spuckt für den Fall "Österreichischer Anwalt ersucht um deutsche Anerkennung" 26 Entscheidungen im Zeitraum 1997 bis 2011 aus: 17 davon positiv bearbeitet, neun negativ.

Wer die österreichische Zulassung in der Tasche hat, kann als Niedergelassener Europäischer Rechtsanwalt nach Deutschland gehen und muss dort drei Jahre "effektiv" durchhalten: beratend tätig sein. Danach kann er sich in die Anwaltskammer eintragen lassen und ist uneingeschränkt gleichgestellt. Oder er legt eine Gleichwertigkeitsprüfung ab. Dasselbe gilt für deutsche Anwälte, die in die Alpenrepublik auswandern. Zuletzt waren insgesamt 40 niedergelassene deutsche Advokaten in Österreich gemeldet.

Zwei Dinge jedenfalls sind für deutsche und österreichische Juristen gleich. Erstens: Eine Extrawurst im Ausland bekommt niemand. Und zweitens: Wer sein Jus-Studium gar nicht erst abschließt, kann trotzdem noch etwas Anständiges werden, zum Beispiel: Popmusiker (Herbert Grönemeyer), Quiztalker (Günther Jauch), Ex-Bundeskanzler (Werner Faymann), Außenminister (Sebastian Kurz) oder gar Mountain Man (Andreas Gabalier).