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"Brasilien ist nicht nur das Land des Sambas, des Fußballs und der schönen Strände. Brasilien ist einer der wichtigsten Wirtschaftsstandorte", sagte Peter Athanasiadis, österreichischer Handelsdelegierter in Sao Paulo, kürzlich im Rahmen einer Brasilien-Tagung in der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ). Von den österreichischen Exporten in der Höhe von 77 Mrd. Euro 2002 gingen zwar nur 0,9% nach Lateinamerika und davon 37,9% nach Brasilien, das Land sei jedoch eine "Chance für österreichische Unternehmer", so Athanasiadis.
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Als fünftgrößtes Land der Erde, das auch gemessen an der Bevölkerungszahl an fünfter Stelle liegt, hat Brasilien laut Athanasiadis "Marktpotenzial": "Bei der Konsumstärke ist Brasilien weltweit unter den Top 3 Märkten." So befindet sich Brasilien etwa an 2. Stelle im Kekskonsum (682.000 Tonnen) und auf Platz vier beim Schuhverbrauch (426 Mill. Paar Schuhe). Im internationalen Produktionsranking nimmt Brasilien Platz 2 bei Jeans, Keramikfliesen, Buskarosserien und Kühlkompressoren ein. Nummer eins ist das Land bei der Produktion u.a. von Sojabohnen, Zucker, Orangen, Kaffee und Papaya. Als Standortnachteile nennt Athanasiadis. Wechselkursschwankungen, einen langwierigen und kostspieligen Markteintritt sowie fehlender persönlicher Sicherheit. Die mittlerweile "konsolidierte" Demokratie sei positiv.
Beispiel VA-Tech
In Brasilien werden jährlich 30 Mill. Tonnen Stahl produziert. Anfang der 1990er Jahre wurde die Stahlindustrie Brasiliens privatisiert. Das zum VA-Tech-Konzern gehörende Unternehmen VAI (Voest Alpine Industrieanlagenbau) betreibt seit 1996 eine Tochterfirma in Brasilien (VA Industria Mercosul), die zunächst auf den Mercusor-Markt ausgerichtet war, sich nun aber auf Brasilien konzentriert. "Das Land bietet sehr gute Voraussetzuungen für die Stahlerzeugung, insbesondere im Bereich Arbeitskräfte und Rohmaterial", berichtet Heinz Steinmair, zuständig für Brasilien bei der VAI. In Folge der Kandidatur und der Wahl des "Arbeiterpräsidenten" Luiz Inácio "Lula" da Silva haben sich laut Steinmair Investitionen kurzzeitig verzögert - "aus gewisser Unsicherheit der brasilianischen Firmen".
Stimmungsumschwung
"Die Regierung ist angetreten - und nach relativ kurzer Zeit sind Menschen, die sich zuvor sehr für sie eingesetzt hatten, sehr enttäuscht gewesen. Auf der anderen Seite gibt es viele, die von einem drohenden Chaos gesprochen haben und das, was jetzt passiert, sehr interessant finden," sagt Andreas Novy von der Wirtschaftsuniversität Wien. In einem Jahr steigender Arbeitslosenzahlen, eines gesunkenen Reallohns und trotz Proteste der Landlosen gebe es sozialen Frieden.
Paul Singer, Wirtschaftsprofessor an der Universität von Sao Paulo und seit Jänner 2003 Staatssekretär für Solidarische Ökonomie in der Regierung Lulas berichtet von einem sinkenden Defizit: "Brasilien verbuchte 1998 ein Defizit von 33 Mrd. US-Dollar, im vergangenen Jahr waren es 7 Mrd und heuer sind es bereits 23 Mrd. an Überschuss." Die Regierung sei bei ihrem Antritt unter Druck gestanden, deshalb hat sie folgende Vorgangsweise gewählt: Mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) wurde vereinbart, dass die Zahlung der Auslandsschulden - 13% des Bruttoinlandprodukts - um 4,25% erhöht werden." Novy: "Man kann sagen, dass Lula das Liebkind des IWF geworden ist." Dieter Gawora von der Universität Kassel sagt im Gespräch mit der "Wiener Zeitung": "Für meine Begriffe ist die Umschuldung überhaupt kein Thema: Angehäufte Schulden zahlt nun die Regierung problemlos zurück, hier würde ich mir lieber eine forsche Diskussion wünschen, wie das zum Beispiel in Argentinien der Fall ist."
"Solidarische Ökonomie"
Als einen der "wirklich ganz großen Schritte" bezeichnet Gawora die Schaffung des Staatssekretariats für Solidarische Ökonomie im Arbeitsministerium Brasiliens. Das Sekretariat sei einerseits eine Koordinationsstelle, andererseits initiativ tätig. "Das solidarische Unternehmen beteht aus Arbeitern, die nur in zweiter Linie auch seine Eigentümer sind. Deshalb ist ihr Zweck auch nicht die Maximierung des Profits, sondern die Maximierung der Menge und Qualität der Arbeit", erklärt Singer. Arbeiter übernehmen insolvente Unternehmen, Angehörige der Landlosenbewegung gründen Betriebe. "Meine Aufgabe ist es, Menschen, die außerhalb der Gesellschaft stehen, wieder zu integrieren", so Singer. "Das funktioniert, das ist das Interessante", kommentiert Gawora. Unterstützt wird diese Bewegung, die es seit Mitte der neunziger Jahre in Brasilien gibt, von der katholischen Kirche und der Caritas. Universitäten arbeiten im Bereich der Solidarischen Ökonomie interdisziplinär, das bedeutet nicht rein wirtschaftlich - "damit die Studenten die Solidarische Ökonomie unterstützen", sagt Gawora.
Konkrete Zahlen, um wieviele Betriebe es sich handelt, gibt es laut Gawora nicht - er vermutet einen Anteil von 1 bis 2%. Die Angabe sei allerdings "wackelig". Die Banken haben durchaus Interesse an dieser Wirtschaftsform: "Die Betriebe wären Pleite gegangen. So bekommen die Banken wenigstens ein bisschen Geld zurück." "Bewegung", sagt Grawora, sei ein großes Wort, doch handle es sich in Brasilien bereits um eine "richtige Tendenz", den Bereich der Solidarischen Ökonomie auszubauen und solidarische Betriebe zu gründen.