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"Brasilien steckt in schrecklicher Krise"

Von Mathias Ziegler

Politik

Bischof Dom Erwin Kräutler übergibt an seinen Nachfolger und zieht im Interview Bilanz nach 50 Jahren am Amazonas.


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Wien/Brasilia. Rund 35 Jahre lang war Dom Erwin Kräutler Bischof der brasilianischen Amazonas-Diözese Xingu. Anfang April gibt er nun den Bischofsstab weiter und geht in Pension. Die "Wiener Zeitung" hat mit dem 76-jährigen Vorarlberger, der 1965 vom Orden der Missionare vom Kostbaren Blut nach Brasilien geschickt und 2010 für seinen Einsatz für die Rechte der Indios und die Rettung des Regenwaldes mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet wurde, über seinen (Un-)Ruhestand, seine Bilanz und die politische und gesellschaftliche Lage in Brasilien gesprochen.

"Wiener Zeitung": Sie sind jetzt offiziell Pensionist. Bleiben Sie in Brasilien oder kommen Sie nach Österreich zurück?Dom Erwin Kräutler: Ich werde sicher ein Pilger zwischen zwei Welten bleiben. Einfach am Xingu die Zelte abzubrechen, bringe ich nicht übers Herz. Nach mehr als 50 Jahren die Koffer zu packen, meine sieben Sachen zu verstauen, ein paar Bücher und Schriften per Post über den Atlantik zu schicken und dann klammheimlich zu verschwinden, das tue ich sicher nicht. Ich werde wohl länger in Europa sein können, an Einladungen fehlt es nicht. Trotz meiner Emeritierung bei der Brasilianischen Bischofskonferenz bin ich aber noch bis 2019 Sekretär der Bischöflichen Kommission für Amazonien. Den Vorsitz dieser Kommission führt Kardinal Claudio Hummes, der dem frisch gewählten Papst Franziskus zugeflüstert hat: "Vergiss die Armen nicht." An eine definitive Transplantation denke ich also wirklich nicht. Hier in Brasilien sagt man: Einen alten Baum darf man nicht verpflanzen. Wenn man das tut, fallen gleich einmal die Blätter ab, die Zweige verdorren, und er stirbt. Und das habe ich noch nicht im Sinn.

Sie haben am 5. März Ihren Nachfolger, den Franziskanerpater João Muniz Alves zum Bischof geweiht. Was sollte man über ihn wissen?

Nach seiner Ernennung zum Bischof hat er mich sofort angerufen und gebeten, Hauptkonsekrator bei seiner Bischofsweihe zu sein. Damit wollte er wohl zum Ausdruck bringen, dass er den Weg, den die Kirche am Xingu seit Jahrzehnten geht, weitergehen möchte. Ganz sicher wird er neue und wichtige Akzente setzen. Er ist 55 Jahre alt, Magister der Philosophie und machte sein Doktorat in Moraltheologie. Aber vor allem war er Seelsorger in seinem Heimatstaat Maranhão und beim einfachen Volk sehr beliebt, und das scheint mir viel wichtiger zu sein als akademische Titel.

Zuletzt war er auch Guardian im Franziskanerkloster in São Luís do Maranhão, zu dem ich sogar eine ganz persönliche Beziehung habe: Am 4. November 1965 reiste ich von Hamburg nach Brasilien an Bord der "Emsstein" der Norddeutschen Lloyd. Am 18. November legte das Schiff in São Luís do Maranhão an. Um 16 Uhr - also zur zehnten Stunde im Johannesevangelium, die die Jünger nie mehr vergaßen (Joh 1, 39, Anm.) - setzte ich das erste Mal meinen Fuß auf brasilianischen Boden. Ich sprach noch kein Wort Portugiesisch, so war es naheliegend, bei den deutschen Franziskanern unterzukommen, bis die "Emsstein" nach ein paar Tagen wieder in See stach und Kurs auf Belém nahm. Zur Bischofsweihe meines Nachfolgers kam ich nun wieder in dieses Kloster und erkannte sofort die Zelle wieder, in der ich damals, also vor mehr als 50 Jahren, untergebracht war.

Was geben Sie Bischof Alves mit auf den Weg?

Ich wünsche ihm viel Mut und Kraft und hoffe, dass er nicht allzu sehr erschrickt, wenn er das gigantische Ausmaß des Bistums entdeckt und mit den nicht minder gigantischen Problemen dieser Gegend konfrontiert wird. Er soll sich zunächst "heiser hören" und mit viel Liebe und Einfühlungsvermögen auf die Menschen am Xingu zugehen. Vor allem möge er ein guter Hirte sein. Als ich 1980 zum Bischof ernannt wurde, baten mich die Leute, kein Schreibtisch-Bischof zu sein, sondern sie immer wieder in ihren Gemeinden besuchen, damit ich am eigenen Leib erfahre, was sie erleben. Das erhoffe ich nun auch vom neuen Bischof.

Apropos "am eigenen Leib erfahren": Sie wurden 1987 bei einem Autounfall, der wohl ein gezieltes Attentat war, schwer verletzt, später gab es immer wieder Todesdrohungen. Haben Sie jemals ans Aufgeben gedacht?

In keinem Augenblick. Das wäre so etwas wie Fahnenflucht gewesen. Neben dem Gottvertrauen und der Hoffnung "Es wird eh nichts passieren!" war ich immer überzeugt, dass ich nach meinem Gewissen und aus Liebe zu den mir anvertrauten Menschen gehandelt habe. Dazu kommt, dass ich in den Tagen, als es für mich wirklich bedrohlich war, ganz besonders die Liebe und Zuneigung des Volkes am Xingu erleben durfte. Wie oft kam jemand auf mich zu und bat mich, nicht aufzugeben. Es gab Transparente in den Kirchen: "Wir kennen deine Sorgen, aber gib nicht auf! Wir lieben dich!" Trotz der Drohungen hätte ich es nie übers Herz gebracht, den Menschen am Xingu den Rücken zu kehren. Meine Liebe zu diesem Volk war nie eine Einbahnstraße. Ich durfte selbst immer wieder Liebe und Vertrauen erfahren.

Welche Bilanz ziehen Sie generell nach 50 Jahren in Brasilien und 35 Jahren als Bischof von Xingu? Wie hat sich die Situation der indigenen Bevölkerung verändert?Die größte Wende brachte die Verfassungsgebende Versammlung 1987/88. Das ist wohl eines der größten Erfolgserlebnisse meines Lebens. Ich war Vorsitzender des Rates der Bischofskonferenz für Indigene Völker. Damals setzten wir uns gemeinsam mit den Indigenen massiv für eine Verfassungsänderung ein. Bis dahin sprachen die Verfassungen diskriminierend von der "Eingliederung der Waldbewohner in die nationale Gesellschaft" - das roch immer nach einem Gewaltakt: Jemand oder ein Gesetz entscheidet über die Zukunft von Menschen, ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen. Die weiße Überheblichkeit diktierte die Regeln.

Damit begann die brasilianische Apartheid-Geschichte: Die Indios sind die Wilden, die Weißen sind die Zivilisierten, die Gebildeten, die Vornehmen, die von anderen Kontinenten kamen, sich hier etablierten, die brasilianische Nation bildeten und die seit Jahrtausenden in diesem Land lebenden Ureinwohner rücksichtslos ausschlossen. Die Indigenen haben zu dieser nationalen Gesellschaft nur Zugang, wenn sie auf ihre Identität verzichten, wenn sie bereit sind, sich "zivilisieren" zu lassen, um "normale" Brasilianer zu werden.

Dieser infamen Apartheid-Geschichte setzte die Verfassung von 1988 ein Ende. Die Indios bekamen ein Recht auf ihr angestammtes Gebiet, ihre Kultur und Sprache, ihre sozialen Organisationsformen. Sie wurden damit sozusagen Vollbürger, und diese Tatsache schenkte den fast 200 Völkern geradezu neues Leben und gab ihnen den Stolz und die Freude zurück, diesem oder jenem Volk anzugehören.

Leider Gottes gibt es heute im Nationalkongress wieder beängstigende Bestrebungen, die Verfassung zu ändern und bereits durchgeführte Demarkierungen von Indio-Gebieten zu revidieren. Die Katholische Kirche in Brasilien und verschiedene Pro-Indio-Organisationen stemmen sich vehement dagegen. Unser Kampf für die Rechte der Indigenen Völker geht also weiter, und es bleibt zu hoffen, dass ihre in der Verfassung festgeschriebenen Rechte auch in Zukunft Geltung haben und respektiert werden.

Welche Rolle spielen dabei Großereignisse wie die Fußball-WM und Olympia? Sind das echte Chancen für die Bevölkerung oder bloß große Shows fürs Ausland, mit denen Missstände übertüncht werden?

Mit "Panem et Circenses" wollte man schon im alten Rom die Bevölkerung politisch mundtot machen. Scheinbar hat das damals auch funktioniert. Bei Olympia und der Fußball-WM geht es erneut um "Circenses", die von der Krise ablenken sollen, in der Brasilien steckt. Eines empört mich immer wieder: Die Sicherheitsvorkehrungen gelten praktisch nur den Olympia-Touristen aus aller Welt. Sie brauchen keine Angst vor Raubüberfällen oder Attentaten zu haben, denn ein Riesenaufgebot an Sicherheitskräften wird sie bewachen und behüten. Aber wenn die Olympischen Spiele vorbei sind, umfängt plötzlich wieder der Alltag die Leute in den Favelas und anderswo. Die Sicherheitsvorkehrungen werden aufgehoben, die Soldaten ziehen in ihre Kasernen zurück. Sie werden erst wieder auf der Bildfläche erscheinen, wenn irgendwo Opfer der Drogenmafia oder anderer Überfälle zu beklagen sind. Bei einer Beerdigung von frühzeitig aus dem Leben gerissenen Menschen braucht es allerdings kein massives Polizeiaufgebot mehr.

Was halten Sie von Präsidentin Dilma Rousseff und ihrem Vorgänger Lula da Silva, den sie nun zurück in die Regierung - und damit wieder in die Immunität - geholt hat?

Brasilien steckt in einer schrecklichen Krise, wirtschaftlich und vor allem moralisch. Schändliche Polarisierungen und gegenseitige Schuldzuweisungen sind an der Tagesordnung. Eigentlich ist es fast ein Wunder, dass die Proteste bisher nicht in blutige Straßenfehden ausgeartet sind. Die Medien scheinen ihre politische Unabhängigkeit aufgegeben zu haben. Die Nachrichten arten oft in Stellungnahmen pro oder contra aus. Bitterer noch ist, dass die Justiz oft ihre Autonomie über Bord zu werfen scheint und politische Entscheidungen fällt.Der innerbrasilianische Frieden ist gefährdet. Diese Geschichte hat irgendwie schon mit Lula begonnen und hängt auch mit einem falschen Fortschritts- oder Entwicklungsbegriff zusammen. Lula meint bis heute, Entwicklung bedeute, die Konsumfähigkeit der ärmeren Bevölkerung zu erhöhen.

Aber das ist doch ein guter Ansatz.

Theoretisch vielleicht schon, nur wurde im Gesundheits- und Erziehungswesen, in der öffentlichen Sicherheit und im Transportwesen sehr wenig bis überhaupt nichts getan. Und plötzlich kamen die ersten Korruptionsfälle ans Tageslicht. Kaum jemand glaubte Lula, als er schwor, nichts gewusst zu haben. Damit war die in allen Wahlkampagnen als Markenzeichen seiner PT propagierte Ethik in der Politik im Eimer. Die Folge ist eine in diesem Ausmaß bisher nicht gekannte Politikerverdrossenheit samt Korruptionsvorwürfen gegen so gut wie alle Politiker aller Couleurs. Kein Wunder, sind doch die Präsidenten sowohl des Senats als auch der Abgeordnetenkammer im Nationalkongress mit Korruptionsprozessen eingedeckt, erfreuen sich aber einer Gerichtsimmunität und denken nicht im Entferntesten daran, ihre Funktionen und Privilegien aufzugeben.

Lula selbst zelebrierte sich immer mehr selbst, wurde arrogant, frönte einer abstoßenden Egolatrie und hat messianische Allüren. Er redet zwar immer noch von den Armen, schloss aber Allianzen gerade mit den Reichen, die für die Misere der Armen Verantwortung tragen. Er umarmte Politiker der extremen Rechten und nannte das Verhandlungstaktik, verlor aber dabei immer mehr sein Gesicht. Seine Ziehtochter Dilma ist total überfordert und dazu noch präpotent und eigensinnig. In einer Umfrage haben 68 Prozent ein Amtsenthebungsverfahren gefordert. Es ist allerdings schwer, sie tatsächlich in Korruptionsaffären verwickelt zu sehen und dies auch zu beweisen. Außerdem ist die Opposition keineswegs vertrauenswürdiger und steckt genauso im Morast. Ich kann im Moment absolut niemanden im politischen Szenario Brasiliens ausmachen, der oder die für mich wählbar wäre. Wir gehen einer besorgniserregenden Zukunft entgegen. Aber Brasilianer geben die Hoffnung nie auf: Vielleicht erhebt sich ja doch noch ein Phönix aus der Asche.